Montag, 31. März 2014

561-570

und ûz dem wüesten walde
ze sînem hûse balde,
dar inne er sîn vil schône pflac.
des hirten wîp dô kindes lac;
daz kam ze heile dirre fruht.
diu frouwe leite durch ir zuht
und durch sînen clâren schîn
an ir brust daz knebelîn,
und zôch ez minneclichen dran.
ein ander ammen si gewan,

und hinaus aus dem einsamen Wald
und kam bald zu seiner Bleibe,
wo er sich sorgsam um das Kind kümmerte.
Die Frau des Hirten lag gerade im Kindbett;
das war ein Segen für jenes Kind.
Weil sie zur Tugend erzogen worden war
und wegen seiner strahlenden Erscheinung
legte die Dame den kleinen Knaben an ihre Brust,
an die sie ihn liebevoll drückte.
Eine andere Amme beschaffte sie sich,

[Etwas irritiert bin ich von der Bezeichnung »frouwe«, also neuhochdeutsch »Dame«, »Herrin«; das ist eine Bezeichnung, die man bei der Frau eines Hirten nicht unbedingt erwarten würde. Aber gut – ich übersetze entsprechend mit »Dame«.]

Freitag, 28. März 2014

551-560

jæmerlichen stimme lût
über gras und über krût
und kam reht in den selben hac,
dar inne ûf grüenem rîse lac
daz kint von hôher art geborn.
nû was sîn lîp als ûz erkorn
und alsô rehte wunneclich,
daz der hirte vröute sich
dur sîn vil clârez bilde:
er truoc ez von der wilde

jammernden, lauten Stimme,
über Stock und Stein
und kam just in genau das Gebüsch,
wo auf dem grünen Dickicht von Zweigen
das Kind, das in eine edle Familie geboren worden war, lag.
Da seine Gestalt so außergewöhnlich war
und überhaupt so anmutig,
freute sich der Hirte
über sein überaus schönes Aussehen.
Er trug es hinaus aus der Wildnis

[Die Formel »gras und krût« übersetze ich mit »Stock und Stein«.]

Donnerstag, 27. März 2014

541-550

und den lebetagen sîn.
nû daz erwelte knebelîn
alsus lac in dem wilden hage,
und sîn diu hinde eht alle tage
nam mit hôhem flîze war,
dô was ein hirte komen dar
in den walt mit sînem vihe,
der hôrte, des ich mich versihe,
daz kindelîn dô weinen.
des îlt er nâch der cleinen

und seinen Lebensunterhalt.
Als nun das auserwählte Kindlein
auf diese Weise in der Wildnis lag
und sich die Hirschkuh tatsächlich täglich
um ihn mit aller Sorgfalt kümmerte,
da kam ein Hirte mit seinen Tieren
dorthin in den Wald gegangen.
Der hörte – dessen bin ich mir gewiss –
das Kindlein dort weinen.
Deshalb lief er in Richtung der dünnen

Mittwoch, 26. März 2014

531-540

mit sîner reinen huote,
des liez er im ze guote
dar komen eine hinden;
an der begund er vinden
zehant die lîpnarunge sîn.
si stuont über daz kindelîn
des tages iemer drîstunt,
und hienc ir brust für sînen munt,
die souc der junge süeze knabe
und hete sîne genist dar abe


mit seiner vollkommenen Fürsorge.
Deshalb ließ er, um ihm zu helfen,
eine Hirschkuh dorthin kommen.
Bei der begann er sofort,
seine Nahrung zu finden.
Sie stellte sich über das Kindlein
– immer dreimal am Tag –
und hieng ihre Brust vor seinen Mund.
Daran sog der junge, süße Knabe
und hatte dadurch seine Nahrung

Dienstag, 25. März 2014

521-530

dort in dem walde aleine.
und dô der knabe kleine
wart irre sîner ammen,
seht, dô begunde enpflammen
sîn herze ûf jâmerunge.
daz edel und daz junge
wunneclîche süeze kint
daz weinte lûte ân underbint:
wan im gebrast der lîpnar.
nû wolte got sîn nemen war

allein dort im dem Wald.
Und als der kleine Knabe
seine Amme vermisste,
seht, da begann in seinem Herz
der Jammer zu entflammen.
Das edle und junge,
anmutig-süße Kind,
das weinte laut und ununterbrochen –
denn ihm fehlte es an Nahrung.
Sich seiner annehmen wollte nun Gott

Montag, 24. März 2014

511-520

für ein gewislich mære,
daz von in beiden wære
daz kindelîn gelegen tôt.
des lônd er in mit golde rôt,
wan er gap in rîlichen solt
und was in beiden iemer holt.
Er wânde ân allen widerstrît,
daz kint daz wære bî der zît
von ir henden tôt gelegen.
dô lac der niuweborne degen

dass der Bericht unbestreitbar sei,
demzufolge von ihnen beiden
das Kindlein getötet worden war.
Dafür belohnte er sie mit rotem Gold,
denn er gab reichlichen Lohn
und war ihnen beiden immerdar zugetan.
Es schien ihm zweifellos so,
als hätte das Kind vor kurzem
aus ihrer beider Hände den Tod empfangen.
Doch lag der neugeborene Held

[Die Übersetzung von »holt« mit »zugetan« ist vielleicht zu schwach, denn hier geht es um ein in Hierarchien eingebettetes Personenverhältnis, das nicht einfach auf Emotionalität zu reduzieren ist. Bei der Übersetzung von »bî der zît« mit »vor kurzem« bin ich mir unsicher.]

Freitag, 21. März 2014

501-510

ze leide keiner slachte dinc:
sus wart der kleine jungelinc
verlâzen in dem walde.
die knehte sniten balde
die zungen ûz dem munde
eim edelen jungen hunde,
der in gevolget hæte.
durch ein urkünde stæte
brâhten si die Prîamô,
dâ bî solt er gelouben dô

nichts zuleide getan werden konnte:
So wurde der kleine Jüngling
in dem Wald zurückgelassen.
Die zwei Leute schnitten bald
einem edlen jungen Hund,
der ihnen gefolgt war,
die Zunge aus dem Maul.
Diese brachten sie Priamus
als eine stichhaltige Urkunde,
die ihn zum Glauben bewegen sollte,

Donnerstag, 20. März 2014

491-500

›uns solte niht diu erde tragen,
ob ein sô klârez kint erslagen
würde von uns beiden;
wir sulen von im scheiden
und ez genesen lâzen.‹
hie mite si dô mâzen
dem kinde lûterlichen prîs.
si leiten ez ûf dickez rîs
und in ein grüenez stûdach,
dâ von den tieren im geschach

›uns dürfte die Erde nicht tragen,
wenn ein so reines Kind
von uns beiden erschlagen würde;
wir sollten uns von ihm trennen
und es am Leben lassen.‹
Auf diese Weise billigten sie
das makelose Ansehen des Kindes.
Sie legten es auf ein Dickicht von Zweigen,
in ein grünes Gebüsch,
wo ihm von den Tieren

Mittwoch, 19. März 2014

481-490

daz si’z ungerne sluogen.
an smieren und an luogen
begunde ez si dô beide,
sam ûf der liehten heide
den küelen tou diu rôse tuot,
dur daz si bleter unde bluot
naz unde fiuhte mache.
die minnecliche sache
die knehte gerne sâhen.
si sprâchen unde jâhen:

so dass sie es ungerne erschlagen wollten.
Es begann, die beiden
anzulächeln und anzuschauen
so wie auf der leuchtenden Heide
der kühle Tau von der Rose angesehen wird,
darum, dass Blätter und Blüte
nass und feucht werden.
Diese liebenswerte Erscheinung
sahen die Leute gerne.
Sie sagten und gestanden sich ein:

Dienstag, 18. März 2014

471-480

wolt er dâ mite ermürdet hân,
und hete im ouch den tôt getân,
wær ez von gote erwendet niht.
dô vor des kindes angesiht
schein daz swert sô lûtervar,
und ez dar inne wart gewar
des bildes und des schaten sîn:
seht, dô began daz kindelîn
die zwêne mortgîtigen man
sô rehte suoze lachen an,

wollte er damit ermorden
und er hätte ihm auch den Tod gebracht,
hätte Gott das nicht verhindert:
Als das Schwert vor dem Gesicht des Kindes
so ungetrübt leuchtete
und es darin sein schemenhaftes
Abbild erkannte,
seht, da begann das Kindlein
die zwei mordgierigen Männer
so überaus lieblich anzulachen,

[»bild« und »schaten« – also wörtlich: »Bild« und »Schatten« – sind nicht so einfach zu übersetzen. »schate« meint laut Lexer auch »Bild allgemein« -- und es ist davon auszugehen, dass selbst ein helles und reines Schwert eher ein Zerrbild zeigt als ein Spiegelbild, wie man es dank der Spiegelfertigung der Neuzeit und Moderne heute kennt. Deshalb habe ich mich für das »schemenhafte Abbild« entschieden.]

Montag, 17. März 2014

461-470

und al sîn massenîe.
nû man diz wandelvrîe
kindelîn brâht in den walt
und ez die zwêne knehte balt
verderben solten under in,
dô wart ez von der strâze hin
gefüeret zuo der wüeste grôz.
ein swert gar lûter unde blôz
der eine ûz sîner scheiden zôch.
daz kint von edelkeite hôch

und der gesamte Hofstaat.
Als man nun dieses unschuldige
Kindlein in den Wald gebracht hatte
und es einer der beiden Leute des Königs
bald töten sollte,
da wurde es von der Straße weg
zu einer großen Wüste geführt.
Ein Schwert, ganz und gar hell und rein,
zog einer der beiden aus seiner Schwertscheide.
Das Kind von hohem Adel

[Mit der Übersetzung »Kindlein« für »kindelîn« bin ich nicht so recht glücklich; aber »Kindchen«, »Kleinkind« und »Baby« sind wohl keine ernstzunehmenden Alternativen. »under in« dürfte hier als »einer von beiden« zu verstehen sein.]

Freitag, 14. März 2014

451-460

ob im belibe der lebetage.
sus wart hin zuo dem wilden hage
daz kint gefüeret al zestunt.
des wart an hôchgemüete wunt
sîn muoter und diu hovediet.
ûz vröuden sich ir herze schiet
dur die küniclichen fruht.
dâ wart vil jâmers mit genuht
begangen unde güebet.
der hof der wart betrüebet

wenn ihm noch Lebenstage blieben.
Also wurde das Kind auf der Stelle
dorthin geführt, wo die Wildnis beginnt.
Deshalb wurde die Fröhlichkeit seiner Mutter
und der Hofgesellschaft in Mitleidenschaft gezogen.
Wegen der königlichen Leibesfrucht
verabschiedete sich das Herz von der Freude.
Dort wurden daraufhin Jammer und Klage
in Hülle und Fülle laut.
Der Hof, er wurde trübselig

[»hac« meint dichtes Gebüsch und/oder eine Einhegung.]

Donnerstag, 13. März 2014

441-450

kein schade von im ûf erstân.
daz kint nâch wunsche wol getân
zwêne knehte er nemen liez;
ze walde er si daz füeren hiez,
dur daz si tæten im den tôt.
bî sîner hulde er in gebôt,
daz si durch keiner slahte dinc
den niuwebornen jungelinc
liezen bî der zît genesen.
wan ez müeste ir ende wesen,

kein Schaden entstehe.
Das Kind, das so war, wie man es sich nur wünschen kann,
ließ er von zwei seiner Leute nehmen;
er gab ihnen auf, es in den Wald zu bringen,
um es dort zu töten.
Bei der Gunst, in der sie bei ihm standen, gebot er ihnen,
dass sie durch nichts, aber auch gar nichts,
den neugeborenen Jüngling
am Leben lassen sollten.
Es wäre nämlich ihr Ende,

Mittwoch, 12. März 2014

431-440

die mir zehant verderbent ez?
swie got ein volleclichez mez
von sælden habe ûf ez gewant,
ez muoz geligen tôt zehant.’
Mit disen dingen und alsus
wart der künic Prîamus
ze râte des ân underbint,
daz er sîn eigenlichez kint
verderben heizen wolte,
dar umbe daz im solte

die es für mich sofort zu Schaden kommen lassen?
Auch wenn Gott in vollem Maße
sein Heil für das Kind aufgeboten hat
muss es sogleich tot daliegen.‹
Mit diesen Überlegungen und auf diese Weise
entschied sich der König Priamus,
dass er ohne Verzögerung dafür sorgen wolle,
dass sein eigenes Kind
ums Leben komme;
und zwar deshalb, damit ihm durch das Kind

Dienstag, 11. März 2014

421-430

dô si geleite slâfen sich,
diu machet mir bezeichenlich
diz kint, daz von ir ist geboren
wirt nû sîn leben niht verloren,
mîn lant zergât in kurzer vrist.
ez ist vil bezzer, wizze Krist,
daz es gelige aleine tôt,
dan daz ich von im kæme in nôt
und allez mîn geslehte.
wâ nû zwêne knehte,

als sie sich schlafen gelegt hatte,
die macht mir das Kind, das von
ihr geboren wurde, zum Zeichen.
Wenn nun sein Leben nicht verlustig geht,
zergeht mein Reich innerhalb kurzer Frist.
Es ist viel besser, bei Gott,
dass es allein tot sei
als wenn ich und mein ganzes Geschlecht
durch es in eine Notlage käme.
Wo sind jetzt zwei Leute,

[Ich übersetze die »knehte« mit »Leute«, zumal ich dann auch von »seinen Leuten« sprechen kann, wenn es um diejenigen geht, die König Priamus verpflichtet sind.]

Montag, 10. März 2014

411-420

der niht ir zünden understât:
reht alsô dringet unde gât
ûz kranker swære stamme
vil starker sorgen flamme,
der si lât frühten unde beren.
des wil ich muoten unde geren,
daz mîn geburt verderbe,
ê daz ich selbe ersterbe
und al mîn rîche werde swach.
diu vackel, die mîn frouwe sach,

wenn man das Entzünden nicht verhindert:
ganz genau so dringt und kommt
aus dem Stamm des schlechten Kummers
die Flamme sehr großer Sorgen,
wenn man sie aufkeimen und wachsen lässt.
So werd‘ ich wollen und begehren,
dass mein Nachwuchs zugrunde gehe,
bevor ich selbst sterbe
und mein ganzes Reich schwach werde.
Die Fackel, die meine Dame sah,

Freitag, 7. März 2014

401-410

dur daz ich sorgen würde entladen.
der wîse man sol sînen schaden
vor betrahten und besehen.
verlüste möhte vil geschehen,
der si niht wolte wenden.
man sol die sorge swenden,
die wîle si gefüege sî,
dur daz man grôzer swære vrî
belîbe und man ir werde erlôst.
ûz einer gneisten wirt ein rôst,

wodurch ich von Sorgen befreit würde.
Ein weiser Mann muss seinen Schaden
rechtzeitig sehen und bedenken.
Viel Schaden könnte demjenigen entstehen,
der nicht beabsichtigt, ihn abzuwenden.
Man muss das, was Sorge bereitet, beseitigen,
solange das mit Anstand möglich ist,
so dass man von großem Kummer frei
bleibe und davon erlöst werde.
Aus einem Funken wird ein Feuer, 

Donnerstag, 6. März 2014

391-400

›Diz ist ein schedelîchiu fruht.
mîn lant möht allez mit genuht
von im zerstœret werden.
ob dirre knabe ûf erden
gewüehse z’einem manne,
sô würde Troye danne
von sîner schulde wüeste.
ê daz er leben müeste
mir ze schedelicher nôt,
ê tæt ich selber im den tôt,

›Das ist eine schadenbringende Leibesfrucht.
Mein Land in seiner ganzen Fülle
könnte von ihm zerstört werden.
Wenn dieser Knabe hier auf Erden
zu einem Mann heranwüchse,
so würde Troja dann
durch seine Schuld zerstört.
Bevor er, wenn er lebt,
mir schändliches Elend beschert,
würde ich ihm selbst den Tod bringen,

Mittwoch, 5. März 2014

381-390

diu frouwe ein knebelîn gebar,
daz schein sô rehte minnevar
und alsô liehter wunne rîch,
daz niender lepte sîn gelîch,
noch niemer lîhte wirt geborn.
liutsælic gar und ûz erkorn
was sîn lîp und sîn gebâr.
und dô der künic alsô clâr
daz selbe knebelîn ersach,
dô wart er leidic unde sprach:

brachte die Dame einen Knaben zur Welt,
der so richtig liebreizend war
und so voll strahlender Glückseligkeit,
dass niemals jemand lebte,
noch kaum jemals jemand geboren wird, der ihm glich.
Ganz und gar leutselig und außerwählt
war sein Körper und waren seine Gebärden.
Und als der König diesen
derart herrlichen Knaben sah,
da wurde er betrübt und sprach:

Dienstag, 4. März 2014

371-380

und inneclicher sorgen;
sîn fröude wart verborgen
und al sîn wunne diu verswant,
wan er gedâhte sâ zehant,
daz sich der selbe troum gezüge
ûf daz kint ân alle trüge,
daz diu küniginne truoc.
dâ von sîn riuwic herze gnuoc
beswæret wart von grunde.
dar nâch in kurzer stunde

und innigste Sorgen;
seine Freue verlor sich
und seine ganze Glückseligkeit verschwandt,
denn er dachte da sofort,
dass sich dieser Traum gewiss auf
das Kind bezöge,
das die Königin in sich trug.
Hierdurch wurde sein betrübtes Herz
von Grund auf schwer.
Bald danach

[Zum Tragen des Kindes setze ich in der Übersetzung noch ein »in sich« hinzu, weil man im Neuhochdeutschen vielleicht zuerst in eine falsche Richtung denkt, wenn davon die Rede ist, dass die Königin ein Kind »trägt«.]

Montag, 3. März 2014

361-370

mir ir fiure brande,
noch in des rîches lande
liez eine stütze niht bestân.
der küniginne wol getân
was dirre troum vil swære
und seit in dô ze mære
dem werden künige Prîamô.
der wart sîn trûric und unfrô,
wan er in angeslîche entsaz.
sîn herze leides niht vergaz

mit ihrem Feuer verbrannte
und auch im mächtigen Land
keine Säule stehen ließ.
Der schönen Königin
war dieser Traum eine Bürde
und so erzählte sie ihn
dem herrlichen König Priamus.
Der wurde deshalb traurig und zeigte Trauer,
weil er sich davor ängstigte und erschreckte.
Sein Herz vergaß nicht das Leid

[Ich übersetze die »Stütze« als Säule, obwohl damit der Objektbereich des Wortes eingeschränkt wird.]