Mittwoch, 30. April 2014

711-720

des wart ir herzen dicke wê.
geheizen was Egenoê
diu selbe feine wilde.
ez wart nie wîplich bilde
sô schœne und alsô rehte fîn,
sô diu gotinne kunde sîn
mit lîbe und mit gebærde.
vil grôz wart ir beswærde
nâch Pârîse z’aller stunt.
ouch wart von ir sîn herze wunt

deshalb tat ihr oft das Herz weh.
Sie hieß Egenoe –
eine wilde Fee.
Nie gab es eine so schöne und
derart fein geformte weibliche Gestalt
wie die Göttin mit ihrem Äußeren
und ihrem ganzen Auftreten es war.
Sehr groß war zu aller Zeit
ihre Sehnsucht nach Paris.
Ebenso war wegen ihr sein Herz verwundet

Dienstag, 29. April 2014

701-710

daz man im hôher tugende jach,
dô treip er dicke in einen bach
daz vihe trenken in dem wage,
der flôz in einem schœnen hage
vür eine wilde clûse.
dar inne was mit hûse
gesezzen ein götinne,
diu leben unde sinne
gar ûf Pârîsen kêrte.
sîn minne si versêrte,

dass man ihm hohe Tugend nachsagte,
da trieb er oft sein Vieh um es im Wasser zu tränken
in einen Bach,
der auf reizende Art und Weise
zu einer wilden Klause floss.
In dieser Klause war eine
Göttin zuhause,
die ihr Leben und ihr Denken
ganz auf Paris richtete.
Ihn zu lieben, schmerzte sie und

[Meint »hage« hier etwas, was »behaglich«, »gefällig«, »schön« ist?]

Montag, 28. April 2014

691-700

an lîbe und an gebâre.
an antlitz und an hâre
was er liutsælic unde stolz.
swenn er daz vihe treip ze holz
und ûf die grüenen heide,
sô kunde er sîn mit weide
nâch dem wunsche nemen war.
nû der juncherre wunnevar
bî dem hirten sus beleip
und sîne zît alsô vertreip,

was sein Aussehen und Auftreten anbelangt.
Sein Antlitz und sein Haar
waren bei den Leuten beliebt und prachtvoll.
Wann immer er das Vieh in den Wald trieb
und auf die grüne Heide,
konnte er sich – ganz wie es ihm beliebte –
in Augenschein nehmen.
Als nun der junge, bildhübsche Herr
sich derart bei den Hirten aufhielt
und seine Zeit so verbrachte, 

Freitag, 25. April 2014

681-690

ir strît würd aller hin geleit.
er hete die bescheidenheit,
daz er nie keinen valsch geriet
und allez dinc ze rehte schiet,
daz verlâzen wart an in.
er leite ûf êren sînen sin
und ûf edelîchiu dinc.
er was der schœnste jungelinc,
der ûf der erden ie wart geborn.
sîn dinc was allez ûz erkorn

all ihre Streitereien beigelegt würden.
Er war klug und verständig,
weshalb er niemals jemandem einen falschen Rat erteilte
und alle Sachen gerecht schlichtete,
die ihm zur Entscheidung angetragen wurden.
Sein Wollen war darauf gerichtet, sein Ansehen zu stärken
und sich in Verhandlungen edel zu verhalten.
Er war der schönste Jüngling,
der jemals irgendwo auf der Welt geboren wurde.
Seine Verhandlungen waren tadellos,

[Zwei Mal ist in dieser Passage von »dinc« die Rede und ich gehe davon aus, dass es sich auf (Gerichts-)Verhandlungen bezieht.]

Donnerstag, 24. April 2014

671-680

gelîche rihten wolte,
als er von rehte solte,
dô wart er Pârîs dô genant
und alsô rehte wîte erkant,
daz er ûf allen velden
und in den wilden welden
wart der jungen hirten voget:
die kâmen alle z’im gezoget,
sô si krieges heten iht,
dur daz vor sîner angesiht

gleichberechtigt richten wollte,
so wie er es von Rechts wegen tun sollte,
da wurde er dort Paris genannt
und weit und breit als gerecht bekannt,
so dass er auf allen Feldern
und in den wilden Wäldern
zum schützenden Herrn der jungen Hirten wurde.
Die kamen alle zu ihm gelaufen,
wenn sie in Streitereien verwickelt waren,
so dass unter seinen Augen

[Ich übersetze das »angesiht« mit »Augen«, weil »Angesicht« im Neuhochdeutschen etwas komisch klingt...]

Mittwoch, 23. April 2014

661-670

und den werdelichen prîs,
daz er geheizen Pârîs
wart dur sîn gelîchez reht.
›par‹ und ›gelîch‹ sint ebensleht
und ist an in kein underbint,
wan daz si mit den worten sind
gesundert und gescheiden.
ein sin lît an in beiden
und ein bezeichenunge.
dar umbe daz der junge

und ihn rühmte, so dass er Paris genannt wurde
weil er darauf achtete, dass alle gleichberechtigt waren.
›par‹ und ›gleichberechtigt‹
meinen dasselbe und kein Blatt passt dazwischen,
außer dass sie mit Worten
separiert und getrennt sind.
Beide haben einen Sinn
und einen Bezug.
Weil der Junge

Dienstag, 22. April 2014

651-660

Er was an rehte vollebrâht.
der arme von im wart bedâht
rehte als der vil rîche.
in beiden er gelîche
rihte nâch ir schulden.
daz herze sîn verdulden
wolt in dem walde keinen zorn.
sîn lîp von hôher art geborn
mit gerihte dâ geschuof,
daz er gewan des lobes ruof

Er war ein meisterhafter Richter.
Der Sache des Bedürftigen nahm er sich ebenso an
wie der Sache des Vermögenden.
Über beide richtete er
entsprechend ihrer Verpflichtung und Schuldigkeit.
Sein Herz wollte in dem Wald
keinen Zorn ertragen.
Er, der aus einer hohen Adelsfamilie stammte,
sorgte durch seine Richtersprüche dafür,
dass man mit Lob über ihn sprach

[Ich habe die Textpassage etwas freier übersetzt und freue mich über Kommentare und Verbesserungsvorschläge.]

Donnerstag, 17. April 2014

641-650

mit den sînen von geschiht,
son liez er sîn engelten niht,
daz si dâ fremde wâren.
er wolte rehtes vâren
und tet in guot gerihte kunt.
swaz dâ gesigte bî der stunt:
ez wære ein ohse, ez wære ein wider,
daz reht enleit er dô niht nider,
wan er im eine crône
sazt ûf sîn houbet schône.

mit den Seinen.
Er bestrafte sie dann nicht dafür,
dass sie dort Fremde waren.
Er wollte Gerechtigkeit walten lassen
und fällte gute Urteile über sie.
Was auch immer dort jeweils siegreich war,
sei es ein Ochse oder ein Widder,
am Recht hielt er fest,
denn er setzt ihm eine Krone
auf sein schönes Haupt.

Mittwoch, 16. April 2014

631-640

und allen wandelbæren sin.
swâ noch der apfel walzet hin,
er dræjet nâch dem stamme sîn:
daz wart bewæret unde schîn
an dem juncherren adellich.
swie vaste er dô gesellet sich
zuo den gebûren hæte,
sô was er doch vil stæte
an allen hövelichen siten.
sô vremde pfarren dicke striten

und allen wankelmütigen Verlockungen.
Wo auch immer der Apfel hinfällt,
er fällt nicht weit vom Stamm.
Das bewahrheitete und zeigte sich
an dem jungen, adligen Herren.
Wie sehr er sich auch in die Gemeinschaft der
Landleuten eingefügt hatte;
er war doch sets ausgezeichnet
in allen höfischen Lebensweisen.
Wenn es die Umstände erlaubten, stritten oft Kinder anderer Pfarrgemeinden

[In den Versen 633 und 634 steht eigentlich, dass der Apfel, wo auch immer er hinrollt, sich immer zu seinem Stamm dreht. Ich vermute einfach mal, dass sich das mit »unserem« Sprichwort übersetzen lässt... Die »gebûren« übersetze ich nicht mit »Bauern«, sondern mit »Landleuten«, weil ich davon ausgehe, dass der Begriff im Text nicht abwertend gemeint ist. Auch der Vers 640 ist nicht leicht zu übersetzen. Ich vermute, dass mit den »pfarren« Pfarrgemeinden gemeint sind. Ich habe überlegt (etwas verkürzend) mit »Gemeinden« zu übersetzen, habe mich dann aber doch für die Pfarrgemeinden entschieden.]

Dienstag, 15. April 2014

621-630

und machten krieges parte:
jô was er ein griezwarte
und ein guot rihter under in.
wan swer den sic dô fuorte hin,
dem sazte er ûf sîn houbet
ein schapel wol geloubet,
dâ mite er in dô krônte
und im der tugende lônte,
daz er sô frumeclichen streit.
unrecht daz vlôch er unde meit

und Kampfparteien bildeten:
Ja, dann war er ein Aufseher
und für sie alle ein guter Richter.
Denn wer auch immer dort den Sieg errang,
dem setzte er auf seinen Kopf
einen mit Laub gewundenen Kranz,
mit dem er ihn dann krönte
und ihn damit für die Tüchtigkeit belohnte,
mit der er so redlich gekämpft hatte.
Er mied die Ungerechtigkeit und entzog sich ihr

Montag, 14. April 2014

611-620

und alliu diu gebærde sîn.
swenn er und ander hirtelîn,
diu sîne gesellen wâren,
ir spils begunden vâren,
sô tet er ie daz beste
und was sô tugentveste,
daz man in lopte denne.
si wâren eteswenne
mit strîte sament gemellich,
alsô daz si dô teilten sich

und sein ganzes Auftreten.
Wann auch immer er und andere junge Hirten,
die seine Gesellen waren,
anfingen, miteinander zu spielen,
so war er stets der Beste
und so beharrlich in seiner Tüchtigkeit,
dass man ihn dafür lobte.
Sie waren bisweilen alle zusammen
im Gerangel so ausgelassen,
dass sie sich dann aufteilten

Freitag, 4. April 2014

601-610

und alle untugende von im jagen.
nû kam vil schiere zuo den tagen
der jungelinc schœn unde stolz,
daz er daz vihe treip ze holz
und ûf der grüenen heide velt.
ez wuohs vil rîcher tugende gelt
ûf sînes herzen acker.
er was rösch unde wacker
ûf allen hövelichen schimpf.
schœn unde guot was sîn gelimpf

und alle schlechten Eigenschaften von ihm fernzuhalten.
Nun kam der schöne und stolze Jüngling
bald in das Alter,
in dem er das Vieh in den Wald treiben sollte
und auf die grünen Wiesen der Heide.
Auf dem Acker seines Herzens
wuchsen die Erträge einer sehr großen Tüchtigkeit.
Er war frisch und wacker
bei allen höfischen Vergnügungen.
Schön und gut war sein Benehmen

Donnerstag, 3. April 2014

591-600

für ein gewislich mære,
daz der hirte wære
ân allen schimpf der vater sîn;
ouch tet er im die triuwe schîn,
daz er ûf in solte hân
billîche vaterlichen wân.
Er zôch in schône und alsô wol,
als ein kint sîn vater sol
durch wâre schulde ziehen.
er kunde schande fliehen

ein unzweifelhafter Bericht zu sein,
demzufolge der Hirte
ohne allen Zweifel sein Vater sei;
auch erwies er ihm die Treue,
indem er ihn ganz zurecht
als seinen Vater ansah.
Er erzog in gut und so sorgsam
wie ein Kind von seinem Vater
aus wahrer Pflicht erzogen werden soll.
Er war in der Lage, aller Schande zu entgehen

Mittwoch, 2. April 2014

581-590

und alsô volleclîche tugent,
daz edel knabe in sîner jugent
nie wart sô zühtic, noch sô wîs;
er bluote sam ein rôsenrîs
in manicvalter güete.
sîn herze und sîn gemüete
stuonden ûf gerihte starc,
daz er vil selten ie verbarc,
swâ man’z bewæren solte.
der süeze wænen wolte

und bedachte ihn mit so vollkommener Tugendhaftigkeit,
dass andere edle Knaben in ihrer Jugend
nie derart wohlerzogen und derat verständig waren.
Wie ein Rosenzweig blüte er
mit mannigfacher Vortrefflichkeit.
Sein Herz und sein Sinn
waren darauf gerichtet, das Rechte zu tun
und er gab sich keine Mühe, das zu verbergen,
wann immer es darauf ankam, dass man seine Gesinnung beweist.
Ihm, dem Bezaubernden, schien es

[Der Vers 582 bereitet mir Kopfzerbrechen. Fehlt ein Artikel (»daz der edel knabe«)? Das würde dann aber inhaltlich wenig Sinn machen. Man müsste wissen, was in den Handschriften steht... Bei den Versen 586-589 übersetze ich etwas ausführlicher, weil es mir nicht so recht gelingen mochte, die Kürze des Mittelhochdeutschen zu imitieren.]

Dienstag, 1. April 2014

571-580

der si bevalch ir selbes kint.
ir trûren wart vil gar ein wint
dur den hôchgebornen knaben:
si wolte in verre lieber haben
danne ir kint, daz si gebar.
si nam sîn vlîzeclîche war
mit süezer handelunge,
sô lange biz der junge
wart ein wol gewahsen kneht.
got leite ûf in der gnâden reht

der sie ihr eigenes Kind anvertraute.
Ihr Kummer darüber hielt sich –
wegen des edlen Knaben – in Grenzen.
Ihn wollte sie weitaus lieber haben
als ihr Kind, das sie geboren hatte.
Sie kümmerte sich eifrig um ihn
und behandelte ihn auf ganz reizende Art und Weise,
so lange, bis aus dem Kind
ein schön gewachsener Jüngling geworden war.
Got hatte ihn den Regeln seiner Gnade unterworfen

[Die Formulierung »der gnâden reht« ist schwer zu übersetzen. Mit dem Recht sind hier geregelte Verhältnisse gemeint und die göttliche Gnade markiert ein grundsätzliches göttliches Wohlwollen. Das Konzept ist recht komplex und deshalb schwer in eine prägnante neuhochdeutsche Formulierung zu packen.]