Freitag, 26. September 2014

1581-1590

daz ir der apfel würde.
diz dûhte ein swære bürde
den got bescheiden unde wîs,
daz ir einiu disen prîs
enphienge dâ besunder
und die zwô dar under
beliben sînes lobes vrî.
wan die frouwen alle drî
die wâren im alsô gewant,
daz er dekeine dô zehant

dass sie den Apfel bekommt.
Dies schien dem bedachten und weisen Gott
eine schwere Last zu sein,
dass hier eine von ihnen
diese Auszeichnung allein erhalte,
während die anderen beiden
auf sein Lob verzichten müssten.
Schließlich waren ihm alle drei Damen
derart zugeneigt,
dass er keine von ihnen geradewegs

Donnerstag, 25. September 2014

1571-1580

der si dô schiede nâch ir ger.
nû hôrte ir rede her Jûpiter,
wan er saz in nâhe bî.
dâ von sô bâtens' alle drî
den hübschen und den werden got,
daz er si durch sîn hôch gebot
geruochte ûz kriege wîsen,
sô daz er eine prîsen
ûz in drîn begünde,
diu daz verschulden künde,

um dort ihrem Willen entsprechend zu schlichten.
Nun hörte Herr Jupiter ihre Diskussion,
weil er in ihrer Nähe saß.
Deshalb baten alle drei
den achtbaren und anerkannten Gott,
dass er ihnen durch seine Entscheidung
einen Weg aus dem Streit heraus zeigen möge,
indem er anfange,
eine von ihnen dreien dafür zu loben,
dass sie die Ursache bieten könne, die dazu führt

Mittwoch, 24. September 2014

1561-1570

rein unde hôhe trûtschaft.
si wurden sêre kriechaft
umb den apfel under in.
dar unde dan, her unde hin
der strît mit rede wart geleit.
ir aller hœhsten werdekeit
warf ir iegelîchiu vür,
dar umbe daz si niht verlür
den prîs dâ bî den stunden.
kein rihter wart dô funden,

reines und vortreffliches Lieben.
Sie begannen heftig untereinander
um den Apfel zu streiten.
hin und her – und her und hin
wurde der Streit mit Worten geführt.
Ihre allerhöchste Würde
warf eine jede in die Waagschale,
um in diesem Moment
den Ehrenpreis nicht zu verlieren.
Kein Richter wurde dort gefunden,

Dienstag, 23. September 2014

1551-1560

was aller hôhen wîsheit,
sô vaht si, weizgot, unde streit
umb den apfel ouch zehant.
ir herze was ûf in gewant
und ir lîbes zuoversiht.
iedoch geschach ir wille niht
an dem prîsande wol getân,
wand in ouch Vênus wolte hân,
dur daz si der minne wielt
und ir herze nâhe vielt

aller hohen Weisheit war,
so focht sie wahrlich und kämpfte
auch sogleich um den Apfel.
Ihr Herz war auf ihn gerichtet
und all ihre innere Zuversicht.
Jedoch konnte sie ihren Willen bei diesem
kunstfertigen Präsent nicht durchsetzen,
weil auch Venus es haben wollte,
schließlich war sie für die Liebe zuständig
und ihr Herz schmiegte sie ganz eng an

[Ich verstehe »lîbes zuoversiht« so, dass Pallas mit ihrer ganzen »Person« zuversichtlich ist. Das versuche ich, mit ›all ihre innere Zuversicht‹ auszudrücken.]

Montag, 22. September 2014

1541-1550

vie den kriec zem êrsten an,
dâ si doch lützel an gewan,
wand ir ze jungest misselanc.
diu werde nâch dem apfel ranc
und hæte in gerne an sich genomen,
dar umbe daz si vollekomen
an rîcheit und an horde was.
dô streit dâ wider Pallas
mit worten und mit sinne.
dur daz si meisterinne

fing als erst den Streit an,
womit sie wenig Erfolg hatte,
weil es ihr zuletzt misslang.
Die Angesehene mühte sich in der Rangelei um den Apfel
und hätte ihn gerne an sich genommen,
weil sie unerreicht war,
was Macht und Schätze anbelangt.
Dagegen wehrte sich Pallas
mit Worten und klugen Gedanken.
Weil sie eine Meisterin

Freitag, 19. September 2014

1531-1540

vernomen under disen drîn.
si drî gelîche wolten sîn
die schœnsten ob in allen.
dô vür si was gevallen
der apfel und er wart gelesen,
dô wânde ir iegelîchiu wesen
diu beste zuo der hôchgezît.
mit worten huobens' einen strît
umb den apfel schiere dô.
des wirtes wîp, vrô Jûnô,

zwischen diesen dreien vernehmen.
Diese drei wollten – alle in gleicher Weise –
die Schönste von ihnen sein.
Als der Apfel vor sie gefallen
und gelesen war,
da hielt sich eine jede von ihnen
für die Beste auf dem Fest.
Sie begannen dann sogleich
um den Apfel einen Streit mit Worten.
Die Ehefrau des Gastgebers, Frau Juno,

Donnerstag, 18. September 2014

1521-1530

Der apfel wunneclich gestalt
von meisterschefte manicvalt
mit zouber sô gelüppet was,
swer die schrift gar überlas,
diu von im schône lûhte,
daz den bî namen dûhte,
daz er sô wunnebære
und sô gewaltic wære,
daz niender lepte sîn genôz.
des wart ein missehelle grôz

Der mit mannigfaltiger, meisterhafter Kunstfertigkeit
herrlich geformte Apfel
war mit Zauber so vergiftet:
Wer auch immer das Geschriebene,
das von ihm aus schön leuchtete, ganz durchgelesen hatte,
dem schien es wahrlich so,
dass er derart liebreizend
und derart mächtig sei,
dass es nirgendwo seinesgleichen gebe.
Deshalb konnte man große Uneinigkeit 

Mittwoch, 17. September 2014

1511-1520

und dô man het an in gelesen,
daz der apfel solte wesen
der schœnsten ûf der hôchgezît,
dô wolte ir iegelîchiu sît
sich dâ nider tücken
und mit der hende ûf zücken
den apfel schœne und ûz erwelt,
dar umbe daz si dâ gezelt
zer besten ûf der erden
möht ob in allen werden.

und als man an ihnen gelesen hatte,
dass der Apfel der Schönsten
auf dem Fest gehören sollte,
da wollte sogleich jede von ihnen
sich dort hinab bücken
und mit den Händen den schönen
und auserwählten Apfel schnell hochheben;
deshalb, weil sie dort von ihnen allen
als die Beste auf Erden
angesehen werden wollte.

Dienstag, 16. September 2014

1501-1510

ze höven und ouch anderswâ!
nû si verlie den apfel dâ
gevallen und gerîsen,
dô kêrte si mit lîsen
triten ûf ir strâze hin
und lie belîben under in
daz kleinœt ûzer mâze fîn.
des wart dô von in allen drîn
ein zeppel und ein kriec derhaben.
dô man gesach die buochstaben

an den Höfen und auch anderswo!
Als sie nun den gefallenen, niedergegangenen
Apfel dort verließ,
da machte sie sich mit leisen
Schritten auf ihrem Weg davon
und ließ das über alle Maßen schöne Kleinod
bei ihnen zurück.
Dadurch wurde dort von allen dreien
ein Zank und Streit begonnen.
Als man die Buchstaben gesehen hatte

Montag, 15. September 2014

1491-1500

und ir alten werresite,
dâ si noch leider ofte mite
verwirret gnuoge liute.
ir sâme wirt noch hiute
geworfen under manigen lîp.
si füeget, daz man unde wîp
vil ofte kriegent umbe niht.
owê, daz des sô vil geschiht,
daz missehelle machet
und fröude und êre swachet

und ihrer alten Zwietrachtgewohnheit,
womit sie leider noch oft
viele Leute in Verwirrung stürzt.
Noch heutzutage wird ihr Samen
unter zahlreiche Menschen geworfen.
Sie richtet es so ein, dass Männer und Frauen
oft wegen nichts und wieder nichts streiten.
Oh weh! Dass so oft Sachen geschehen,
die Uneinigkeit stiften
und Freude und Ansehen schwächen

Freitag, 12. September 2014

1481-1490

dâ vinden sîne sprâche.
durch üppeclîche râche
wart der apfel wandels vrî
gevellet under dise drî
gotinne, der ich hân gedâht.
gefüeret het in unde brâht
Discordiâ zer hôchgezît,
dur daz si kriec, haz unde nît
mit im dâ muoste briuwen.
si wolte ir art erniuwen

dass er dort seine Sprache fände.
Um sich in großem Maßstab zu rächen,
wurde der tadellose Apfel
zwischen diese drei Göttinnen,
über die ich gesprochen habe, fallen gelassen.
Zur Hochzeit mit sich geführt und gebracht
hatte ihn Discordia,
so dass dort Streit, Neid und Hass
durch ihn angestiftet werden mussten.
Sie wollte ihrem Wesen treu bleiben

[Ich übersetze »erniuwen« (also »erneuern«) mit »treu bleiben«, was inhaltlich einigermaßen stimmen dürfte, aber nicht genau die Vorstellung trifft.]

Donnerstag, 11. September 2014

1471-1480

wes der apfel solte wesen.
in swelher zungen man daz lesen
wolte bî der selben zît,
diu wart ân allen widerstrît
und in vil kurzen stunden
an den buochstaben funden,
die man dâ stân gelîmet sach.
von hôher künste diz geschach,
daz sich diu schrift verkêrte
und iegelichen lêrte

wem der Apfel gehören sollte.
In welcher Sprache auch immer man
das in diesem Moment lesen wollte,
die wurde ohne Widerstand
und in kurzer Zeit
an den Buchstaben gefunden,
die man dort angebracht sah.
Das geschah durch große Kunstfertigkeit,
dass sich das Geschriebene veränderte,
und jeden unterrichtete, 

Mittwoch, 10. September 2014

1461-1470

muoz si wesen ûz erwelt
und für die besten sîn gezelt,
diu von der hôchgezîte spil
mit ir den apfel füeren wil.‹
Diu rede und dise buochstaben
wâren mit gesteine ergraben
ûf des apfels umbekreiz,
der von smâragden grüene gleiz
und alsô wol geschriben was,
daz man dar an kôs unde las,

muss sie, die von den Freuden des Festes
den Apfel mit sich führen will,
auserwählt sein
und zu den Besten gezählt werden.‹
Diese Ansprache und diese Buchstaben
waren mit Edelsteinen
auf dem Umkreis des Apfels eingegraben.
Der Umkreis glitzerte mit grünen Smaragden
und geschrieben war so gut war das Geschriebenem
dass man daran erkannte und las,

[Gibt es eine bessere Übersetzung für »umbekreiz«?]

Dienstag, 9. September 2014

1451-1460

verr ûz der lîsten grasevar.
diu schrift von hôher koste gar
diu sprach alsus ze tiute:
›swelch frouwe sî noch hiute
diu schœnste ûf disem veste,
sô daz an ir kein breste,
noch kein wandel werde schîn,
der eigen sol der apfel sîn,
noch anders keines wîbes.
ir muotes und ir lîbes

weit aus der grasfarbenen Leiste hinaus.
Die Schriftzeichen – alle von hohem Wert –
die sagten übersetzt folgendes:
›Welche Dame auch immer hier
und jetzt auf diesem Fest die schönste ist,
so dass sich an ihr weder Mangel
noch tadelnswertes Verhalten zeigt,
der soll der Apfel gehören
und keiner anderen Frau.
Was ihre Gesinnung und ihr Aussehen anbelangt,

[Oben (781-790) habe ich »ze tiute« mit »bedeuten« übersetzt; mittlerweile neige ich eher dazu, »auf Deutsch« oder ähnliches zu übersetzen.]

Montag, 8. September 2014

1441-1450

stücken gar gefüeget wol.
vil ûz erwelter schrifte vol
schein der selbe grüene strich,
wan die buochstaben kostbærlich
beschouwen sich dâ liezen.
von glanzen mergriezen,
die niht reiner mohten sîn,
wâren si gevelzet drîn
und lûhten wunneclichen dâ;
si glizzen rôt, gel unde blâ

Stücken ganz hervorragend zusammengesetzt.
Voll mit auserwählten Schriftzeichen
leuchtete dieser grüne Strich,
wenn sich dort die kostbaren Buchstaben
betrachten ließen.
Aus glänzenden Perlen,
die nicht von größerer Reinheit hätten sein können,
waren sie darin zusammengelegt
und herrlich glänzten sie dort; 
Sie glitzerten rot, gelb und blau

[Sind »schrifte« Schriftzeichen? Oder sollte man quasi wörtlich von »Schriften« sprechen?]