Freitag, 30. Januar 2015

2281-2290

den tiursten von dem lande.
gebresten manger hande
lît an der minne unstæte.
getriuwes herzen ræte
ir wille ungerne triutet.
und swaz man ir verbiutet,
daz ir ze schaden muoz ergân,
daz wirt zehant von ir getân
und erfüllet ûf ein ort.
si næme silber unde hort

den Vortrefflichsten des ganzen Landes.
Vielerlei Mängel
bringt die unbeständige Minne mit sich.
Die Ratschläge eines treuen Herzens
mag ihr Wollen ungern lieben.
Und was auch immer man ihr verbietet,
weil es ihr schaden wird,
das wird sogleich von ihr getan
und bis zum Ende durchgeführt.
Silber nähme sie und Reichtümer

Donnerstag, 29. Januar 2015

2271-2280

ir wille wirt vergellet.
swar an ir sin gevellet,
ez sî denn übel oder guot,
daz endet si gar unde tuot
ân allen wîsen fürgedanc.
ze snœde enist ir, noch ze kranc
kein mensche ûf al der erden,
mac eht ir wille werden
an im erfüllet mit getât.
si mîdet durch in unde lât

wird ihr Wollen bitter.
Wohin auch immer sich ihr Sinn wendet,
egal, ob es gut oder schlecht ist,
das vollbringt sie ganz; und sie handelt,
ohne zuvor sorgfältig darüber nachzudenken.
Kein Mensch auf der ganzen Welt
ist ihr zu gering oder zu schwach,
wenn nur an ihm
ihr Wollen tatkräftig ausgeführt werden kann.
Wegen ihm meidet und übergeht sie  

Mittwoch, 28. Januar 2015

2261-2270

daz si dâ minnet hiute.
daz man den armen triute,
des enwil niht ir gebot:
ein man ist alle zît ir spot,
der læren seckel dinset.
swer aber hôhe zinset
ir spil und alle ir süezekeit,
der wirt vil nâhe z'ir geleit
und gedrücket an ir brust.
mit sô getâner âkust

die sie doch heute liebt.
Dass man den Armen lieb hat,
das wollen ihre Vorschriften nicht.
Ein Mann, der einen leeren Säckel
mit sich führt, wird von ihr zu allen Zeiten verspottet.
Aber jeder, der ihre Spiele
und all ihren Liebreiz hoch verzinst,
der wird ganz nah zu ihr gelegt
und an ihre Brust gedrückt.
Mit einer solchen Bosheit

Dienstag, 27. Januar 2015

2251-2260

der man vil wol enbære;
diu fröude wirt ze swære,
die si dem man ze lône gît,
wan si dar under alle zît
tœtlîche sorge mischet.
von leide ir liep erlischet;
ir wol verkêret sich in wê.
noch hât si wandels an ir mê,
den man vil kûme an ir vertreit.
ein dinc daz wirt ir morne leit,

auf die man sehr gut verzichten kann;
die Freude, mit der sie dem Mann lohnt,
wird zu schwer,
weil sie immer
tötliche Sorge hinein mischt.
Ihre Freude erlischt durch das Leid;
ihr Glück schlägt in Elend um.
Zudem führt sie auch noch Wandel mit sich,
den man an ihr nur schwer erträgt.
Eine Sache wird ihr morgen leid,

Montag, 26. Januar 2015

2241-2250

und ist sô wandelbære,
daz ir daz wirt unmære
daz ir gewesen ist vil zart.
si triutet dicke unedel art,
der si dâ solte sîn gehaz,
und nidert eteswenne daz,
dem si von schulden wære holt.
die minne dû niht loben solt,
wan si gar lützel triuwen hât.
si spulget einer missetât,

und ist so unbeständig,
dass ihr dasjenige unlieb wird,
was ihr einst so lieb und teuer war.
Oft begehrt sie, was unedel ist,
obwohl sie das hassen sollte;
und sie setzt mituner das herab,
was zu schätzen sie verpflichtet wäre.
Die Minne darfst Du nicht loben,
denn ihre Treue wiegt sehr gering.
Sie ist an eine Schandtat gewöhnt,

[Ich übersetze das »triuten« in Vers 2244 mit »begehren«, was zwar über die wörtliche Bedeutung hinausgeht, hier aber das Gemeinte ganz gut zu treffen scheint.]

Freitag, 23. Januar 2015

2231-2240

und ein ende drâte!
von hôher künste râte
und von des guotes lêre
wirt beidiu nuz und êre
vil dicke noch gewunnen.
dîn lîp ist unversunnen,
der ie getorste sprechen,
daz minne künde brechen
vür wîsheit und vür allez guot.
diu minne hât unstæten muot

und bring’ deinen Widerstand schnell zu einem Ende!
Durch die Ratschläge, die großer Weisheit entstammen,
und durch die Lehren, die sich aus dem Besitz ergeben,
wird sowohl Ansehen wie auch Nutzen
auch heute noch immer wieder erlangt.
Du bist töricht,
wenn Du je hast sagen können,
dass die Minne in der Lage sei,
sich gegen Weisheit und allen Besitz durchzusetzen.
Die Minne hat eine wankelmütige Gesinnung

[Vielleicht habe ich diese zehn Verse etwas zu sehr verkompliziert…]

Donnerstag, 22. Januar 2015

2221-2230

und für die besten ûz erkorn
diu zuo der welt ie wart geborn.‹
Vrô Pallas und vrô Jûnô
der rede buten aber dô
gezogenlîche antwürte.
die frouwen von gebürte
gewaltic unde rîche,
si sprâchen vil gelîche
zuo der götinne disiu wort:
›Vênus, gip dîme kriege ein ort

und werde zu den Besten gezählt,
die je auf die Welt gekommen sind.‹
Frau Pallas und Frau Juno
hielten der Rede sogleich
eine höfliche Antwort entgegen.
Die Damen, die von Geburt an
mächtig und reich waren,
sie sagten beide in gleicher Weise
zu der Göttin Folgendes:
›Venus, mach’ einen Punkt

Mittwoch, 21. Januar 2015

2211-2220

noch sô wunneclichez wart,
sô diu minne ist und ir art,
swâ man ir herzeclîche pfligt.
minn allen sorgen an gesigt
und ist der vröuden überfluz;
minn ist der güete ein mandelnuz
und alles heiles wünschelrîs.
man sol mir lâzen hie den prîs
und den apfel ûz erwelt,
wan ich zer schœnsten bin gezelt

noch so wohltuend,
wie es die Minne ist und ihre Wesensart –
wo auch immer man sie liebevoll praktiziert.
Minne besiegt alle Sorgen
und bietet Freude im Überfluss;
Minne ist ein Mandelkern alles Guten
und eine Wünschelrute allen Heils.
Mir muss man hier den Preis lassen,
den erlesenen Apfel,
denn ich gelte als die Schönste

2201-2210

nâch miner hôhen helfe sene.
den sun ich von dem vater wene
ûf mîner süezekeite spil.
mâc unde friunt man lâzen wil
durch mînes râtes lêre.
man wâget lîp und êre,
rîchtuom und alle witze,
dur daz man vrô gesitze
von mîner helfe stiure.
nie werc alsô gehiure,

nach meiner edlen Hilfe sehnen.
Den Sohn lenke ich vom Vater ab,
hin zum meinem süßen Spiel.
Freunde und Verwandte will man sein lassen,
durch das, was mein Ratschlag lehrt.
Männer setzen Leben, Ansehen,
Reichtum und allen Verstand auf’s Spiel,
nur um sich glücklich niederzulassen –
durch meine steuernde Hilfe.
Nie war eine Wirkung so lieblich

[Jemanden von etw. »wenen« dürfte meinen, dass jemand aus einer gewohnten Beziehung herausgelöst wird. »werc« ist nicht ganz leicht zu übersetzen; »Wirkung« scheint mir am nähesten dran zu sein.]

Montag, 19. Januar 2015

2191-2200

spiegel sol ich heizen;
ich kan beidiu reizen
ûf aller vröuden süezekeit.
der wunsch der ist an mich geleit
und an mîner tugent kraft.
ich süene starke vîentschaft
und verslihte manigen zorn,
der niht werden mac verlorn,
noch gestillet âne mich.
nû schouwent, wie vil manger sich


der Herzen und der Augen.
Beide kann ich verführen
zur Wonne und zu allen süßen Freuden.
Was man sich nur wünschen kann,
das ist in mir und meinen gewaltigen Fähigkeiten verwirklicht.
Ich schlichte große Feindschaften
und stille so manchen Zorn,
der ohne mich weder aufgegeben
noch beigelegt werden kann.
Nun schaut doch, wie so viele sich 

[Da man »süezekeit« schlecht mit »Süßigkeit« übersetzen kann, habe ich versucht, das Phänomen mit »Wonne und Liebreiz« zu umfassen.]

Freitag, 16. Januar 2015

2181-2190

vil manges herzen arke.
Sampsônes kraft, diu starke,
wart von mir überwunden.
diu minne hât gebunden
alliu dinc mit ir gewalt.
von rehte muoz ich sîn gezalt
zer besten ûf der erden.
mir sol der apfel werden
ze teile sunder lougen.
der herzen und der ougen

die Arche so manchen Herzens.
Samsons Kraft, die gewaltige,
wurde von mir überwunden.
Die Minne hat mit ihrer Macht
alle Dinge gebunden.
Zurecht muss ich zur
Besten auf der Erde gezählt werden.
Mir muss der Apfel gehören
– ohne weitere Diskussion.
›Spiegel‹ sollte ich genannt werden,

[Das »sunder lougen« ist nicht so ganz einfach zu übersetzen; ich versuche es hier einmal mit »ohne weitere Diskussion«.]

Donnerstag, 15. Januar 2015

2171-2180

geneiget mîner hôhen art.
Adâm von gotes gnâden wart
gebildet und gemachet,
doch het in ouch geswachet,
diu minne schiere und ir gebot,
daz er begunde wider got
sô vrevelichen werben,
daz al sîn künne sterben
muoste durch die schulde sîn.
jô zittert vor dem zorne mîn

meinem hohen Adel beugen.
Adam wurde durch die Gnade Gottes
geschaffen und geformt,
doch auch ihn hatte bald die Minne
mit ihrer Gewalt geschwächt,
so dass er anfing, auf so vermessene Weise
sich gegen Gott zu wenden,
so dass sein gesamtes Geschlecht
durch seine Schuld sterben musste.
Ja! – vor meinem Zorn zittert

Mittwoch, 14. Januar 2015

2161-2170

vil gar nâch mînes herzen ger.
der minne strâlen und ir sper
entsitzet allez, daz der ist.
waz möhte Salomônes list
gehelfen wider mîne kraft?
mîn lêre diu wart sigehaft
an sîner hôhen künste grôz.
Dâvît ouch gegen mir genôz
gewaltes niht ûf erden;
sîn rîcheit muoste werden

ganz so wie es mein Herz begehrt.
Die Pfeile der Minne und ihr Speer
behaupten sich gegenüber allem.
Was könnte die Klugheit Salomons
gegen meine Kraft ausrichten?
Meine Wille hat gesiegt
über seine hohen, mächtigen Fähigkeiten.
Auch David konnte sich mit seiner herrscherlichen Gewalt
hier auf Erden gegen mich nicht behaupten;
Seine Macht musste sich

Dienstag, 13. Januar 2015

2151-2160

sprach Vênus aber dô zehant.
›Gelücke het ûf mich gewant
sô volleclîche sælikeit,
daz rîchtuom unde wîsheit
erfüllent beidiu mînen muot.
wan swie der wîse erwirbet guot,
ez wirt mir allez undertân,
und swaz der rîche mac gehân
wîstuomes unde witze,
daz nütz ich und besitze

sagte da Venus sogleich.
›Das Schicksal hat mich
mit so vollkommener Anmut ausgestattet,
dass beides, Reichtum und Weisheit,
mein Gemüt ausfüllen.
Denn wie auch immer der Weise Besitz erwirbt,
es wird mir alles unterstellt werden,
und was auch immer der Reiche
an Weisheit und Klugheit haben mag,
das gebrauche und besitze ich,

Montag, 12. Januar 2015

2141-2150

diu schœnsten wîp ûf erden.
kein frouwe diu mac werden
sô kürlich und als ûz genomen,
man habe ir lîp schier überkomen
mit witzen und mit guotes kraft.
Vênus belîp niht kriechaft
umb den apfel wol getân,
wan unser einiu wil in hân,
der sol er eigenlichen sîn!‹
›entriuwen, er muoz wesen mîn!‹

die schönsten Frauen der Welt.
Keine Dame kann so auserkohren
und unnahbar sein,
dass man sie nicht rasch mit der
Macht der Klugheit und des Besitzes besiegen könnte.
Venus, hör’ auf, um den
schön geformten Apfel zu streiten,
denn eine von uns beiden will ihn haben und
der soll er gehören!‹
›Wahrlich, er muss mir gehören!‹

Samstag, 10. Januar 2015

2131-2140

sô lâzent mir den prîsant
belîben hiute in mîner hant
und in mîner hôhen pfliht.‹
›nein,‹ sprâchen si, ›des tuon wir niht,
der apfel hœret dich niht an.
ez wizzen frouwen unde man,
daz wîsheit unde rîchtuom
erworben hânt der wirde ruom,
daz man si für dich minnet.
ir zweiger kraft gewinnet

Lasst also das Präsent
heute hier in meiner Hand
und in meiner würdigen Obhut.‹
›Nein‹, sagten sie, »das tun wir nicht,
der Apfel gehört dir nicht.
Frauen und Männer wissen,
dass Weisheit und Reichtum
Ruhm und Ansehen erlangt haben,
dass man sie mehr liebt als dich.
Die Kraft dieser beiden erringt

[Das »hôch« ist mit »würdig« vielleicht etwas zu spezifisch übersetzt; auf der anderen Seite scheint das »würdig« gut in Venus’ Argumentation zu passen.]

Donnerstag, 8. Januar 2015

2121-2130

und alles guotes houbetschaz.
ir dienet âne widersaz
arm unde rîch, wîs unde tump.
si machet sleht gerihte crump
und die krumben sache sleht.
si minnet ritter unde kneht,
küng unde fürsten nîgent ir.
der apfel der sol werden mir:
sît daz ich aller minne pflige
und ich dâ mite an iu gesige,

und auch dorthin, wo die größten materiellen Schätze sind.
Ihr dienen, ganz ohne Widerstand,
Arme und Reiche, Dumme und Weise.
Sie macht einfache Urteile kompliziert
und die komplizierten Sachen einfach.
Sie liebt Ritter und Knecht;
König und Fürsten verneigen sich vor ihr.
Der Apfel, der muss mir gehören,
weil ich für alle Minne zuständig bin
und ich auf diese Weise den Sieg über euch erringe.

[»sleht« und »krump« übersetze ich mit »einfach« und »kompliziert«, weil mir das im Neuhochdeutschen eingängiger zu sein scheint.]

Mittwoch, 7. Januar 2015

2111-2120

noch vor ougen niht enhabe.
lânt iuwer üppic strîten abe.
der apfel ist mîn eigen.
ich kan iuch wol gesweigen
an worten und an sinne.
ir wizzent wol, daz minne
brechen muoz für elliu dinc.
minn ist der fröuden ursprinc
und ir mittel und ir ort.
si drücket aller künste hort

oder vor Augen habe.
Lasst ab von eurem unnützen Streiten:
Der Apfel gehört mir.
Ich bin gewiss in der Lage,
euch, euer Reden und Denken, zum Schweigen zu bringen.
Ihr wisst genau, dass die Minne
alles überwindet.
Minne ist der Ursprung der Freude
und ihr Mittel und ihr Ort.
Sie drängt sich dorthin, wo Kunstfertigkeit versammelt ist,

[Wie genau man hier »drücken« übersetzen sollte, ist mir nicht ganz klar.]

Dienstag, 6. Januar 2015

2101-2110

wan er ist mîn von rehte:
an lîbe und an geslehte
kan mir kein vrouwe sîn gelîch.
wîstuom und alle gülte rîch
mac überwinden mîn gewalt.
mich êret beide junc und alt
und erhœhet mînen prîs.
kein man ûf erden ist sô wîs,
noch sô rîch an guote,
der mich in sînem muote,

denn zurecht gehört er mir.
Was Aussehen und Herkommen anbelangt,
kommt keine Frau mir gleich.
Weisheit und alle goldenen Reichtümer
kann meine Macht überwinden.
Sowohl Junge wie auch Alte ehren mich
und erhöhen mein Ansehen.
Kein Mann auf der Welt ist so weise
oder so reich an Besitz,
dass er mich nicht in seinem Sinn

Montag, 5. Januar 2015

2091-2100

daz liste von im werden.
ze himel und ûf erden
witz unde reiniu wîsheit
die crône ûf allen êren treit.‹
Nû die götinne beide
mit rede ân underscheide
striten hövelîche alsus,
dô sprach diu vrouwe Vênus:
›ir mügent iuwer kriegen lân,
ich wil den apfel selbe hân,

dass durch Gold Wissen entstehe.
Im Himmel und auf der Erde
tragen Wissen und reine Weisheit
die Krone allen Ansehens.‹
Als nun die beiden Göttinnen
auf diese Weise mit ihren Reden
ununterbrochen höflich stritten,
sprach Frau Venus:
›ihr könnt aufhören zu streiten,
ich selbst will den Apfel haben,