Freitag, 27. Februar 2015

2431-2440

daz si den triuweblôzen
ir vröude wil verstôzen
und ir vil hôhen süezekeit.
ist aber, daz im wirt bereit
ir fröude lützel von geschiht,
diu gât alsô von grunde niht,
daz si durchnehtic heizen müge.
swâ valscher lîp mit sîner trüge
die minne wænet effen,
dâ muoz der schade treffen

dass sie denjenigen, die treulos sind,
ihre Freude entziehen will
und ihren überaus große Liebreiz.
Wenn aber – durch Zufall –
ihm ein wenig ihrer Freude zuteil wird,
die hat dann nicht ein solches Fundament,
dass man sie als vollkommen bezeichnen mag.
Wo auch immer jemand, der verlogen ist und betrügt,
glaubt, die Minne zum Narren machen zu können,
da muss der Schaden ihn selbst treffen

Donnerstag, 26. Februar 2015

2421-2430

der si niht solte ruochen,
und sprechent, der si suochen
beginne, daz si vliehe den:
daz ist ouch wâr, wan eteswen
begnâdet si dar under.
ez wære ein michel wunder,
ob si den allen würde holt,
die von ir minneclichen solt
unverdienet wellent hân.
ir site ist sô getân,

um die sie sich nicht kümmern sollte,
und ihr sagt, dass sie denjenigen flieht,
der damit beginnt, sie zu suchen; –
das ist auch wahr, aber irgendwen
davon beschenkt sie mit ihrer Gnade.
Es wäre ein großes Wunder,
wenn sie allen hold werden würde,
die, ohne es verdient zu haben,
von ihr liebevollen Lohn erhalten möchten.
Bei ihr ist es Sitte,

Mittwoch, 25. Februar 2015

2411-2420

unschuldic zweiger dinge,
diu mir z'eim ungelinge
von iu sint gezogen für.
mit eigenlicher willekür
swachent ir mich âne reht.
der minne dinc ist alsô sleht
und an sælden vollebrâht,
und ir hânt mir des zuo gedâht,
daz minne, diu vil reine,
die liute dicke meine,

an zwei Dingen unschuldig,
die mir als Übel
von euch vorgehalten wurden.
Mit einer eigenartigen Einstellung
erniedrigt ihr mich, ohne dazu das Recht zu haben.
Die Gegenstände der Minne sind so geradlinig
und mit Heil ganz erfüllt,
und das habt ihr mir vorgehalten,
dass die Minne, die so rein ist,
oft auf die Leute einwirkt,

[»Ungelinge« meint laut Lexer »das mislingen, misgeschick, unglück«; an dieser Stelle scheint mir aber etwas wie »Übel« besser zu passen.]

Dienstag, 24. Februar 2015

2401-2410

daz sîn wunneclicher schîn
mit der schœnen varwe sîn
kan liuhten für si beide.
sus wirt ouch liep bî leide
geminnet deste vaster,
daz kumber unde laster
an dem leide funden wirt
und daz liep dâ bî gebirt
êr unde fröude manicvalt.
hie wirt diu minne mit gewalt

als sein bezauberndes Leuchten
und seine schöne Farbe
sie beide überstrahlt.
So wird auch Freude beim Leid
umso mehr geliebt,
als Kummer und Demütigung
bei dem Leid gefunden wird
und Freude dabei auf vielfältige Weise
Ansehen und Glückseligkeit erzeugt.
Hierbei ist die Minne mit Macht

[Wie genau die Formulierung »mit gewalt« hier zu verstehen ist, wird mir nicht ganz klar.]

Montag, 23. Februar 2015

2391-2400

daz man dâ bî treit ungemach.
swem nie von minne wê geschach,
dem wart nie von ir rehte wol.
ein leit man gerne lîden sol
durch manicvalter wunne kraft.
sorg unde reine trûtschaft
gezement wol ein ander bî:
jô machet kupfer unde blî,
daz golt den liuten ist sô wert;
wan sîn wirt deste baz gegert,

wenn man dabei Unannehmlichkeiten erträgt.
Jedem, der nie Leid durch Minne erfuhr,
erging es durch ihr nie wirklich gut.
Man muss ein Leid gerne erleiden,
um die Macht vielfältiger Wonne zu erfahren.
Sorge und ungetrübte Liebe
passen sehr gut zueinander –
es sind ja auch Kupfer und Blei,
die den Leuten das Gold so angenehm machen,
denn man begehrt es umso mehr,

Freitag, 13. Februar 2015

2381-2390

daz minne tougen als ein diep
leit künne mischen under liep,
daz ist ouch âne zwîvel wâr,
iedoch sô wirt ez âne vâr
und durch guot von ir getân.
si wil bî sorgen fröude hân
und liep bî leider sache,
dar umbe daz si mache
ein deste wunderlicher spil.
liep dunket deste lieber vil,

dass die Minne heimlich wie ein Dieb
Leid in die Freude mischt,
was auch zweifellos stimmt,
allerdings tut sie es nicht mit bösem Willen,
sondern mit guten Absichten.
Sie will bei Sorgen Fröhlichkeit haben
und Freude bei betrüblichen Dingen,
um auf diese Weise ein
umso außergewöhnlicheres Spiel zu veranstalten.
Freude scheint einem umso größer,

2371-2380

der vellet lîhte in arebeit.
wie mac si denne sîniu leit
erwenden mit ir stiure?
swaz bitterlicher siure
wirt funden an ir ende,
die leit mit sîner hende
ein veigez ungelücke dran:
dâ vor nieman gehüeten kan,
noch beschirmen lange sich.
ir hânt gesprochen wider mich,

der landet leicht in Mühsal und Leid.
Wie soll sie denn sein Leid
durch ihr Gabe abwenden?
Welche saure Bitternis auch immer
bei ihr gefunden wird,
die legt mit seiner Hand
ein unseliges Unglück dort hin.
Davor kann sich niemand bewahren
oder lange schützen.
Ihr habt an mich gerichtet gesagt,

[»stiure« gebe ich mit »Gabe« wieder, was allerdings nicht das ganze Bedeutungsspektrum abdeckt. Wie genau man »an ir ende« zu verstehen (und dann auch: zu übersetzen) hat, ist mir nicht klar.]

Mittwoch, 11. Februar 2015

2361-2370

lützel ieman sich bewarn.
waz mac diu minne, ob ir daz garn
des ungelückes wirt geleit?
unheiles netze ist alze breit,
daz gnuogen wirt gestellet.
ob einer dar în vellet,
der herzelicher liebe pfligt
und er dar inne tôt geligt,
dâ wirt diu minne unschuldic an.
dem si vil hôher wunne gan,

vor Unglück schützen.
Was vermag die Minne, wenn ihr der Faden
des Unglücks den Weg vorgibt?
Das Netz des Unglücks ist so groß,
dass es für viele aufgestellt ist.
Wenn einer dort hinein fällt,
der von Herzen liebt,
und er darin zu Tode kommt –
daran ist die Minne nicht schuld.
Demjenigen, dem sie große Lust und Freude gönnt,

[Wie man das »wirt geleit« genau zu verstehen und zu übersetzen hätte, ist mir nicht klar.]

Dienstag, 10. Februar 2015

2351-2360

vil stæteclîche ûf unde nider;
her unde hin, dan unde wider
loufet ez spât unde fruo,
dar umb enhœret niht dar zuo,
daz man gevâre sîner art.
nieman sô rehte wîse wart,
der wizzen müge die lûne,
wan im ir heil Fortûne
zuo sîgen lâzen welle.
des kan vor ungevelle

ganz beständig auf und ab;
hin und her, vor und zurück
läuft es von früh bis spät,
so dass es nicht geht,
seiner eigenen Natur zu folgen.
Niemand war je derart weise,
dass er die Launen wissen könnte,
außer wenn Fortuna ihm ihr Heil
zufließen lassen wolle.
Deshalb kann sich gar niemand

Montag, 9. Februar 2015

2341-2350

den vrouwen unde sprach zehant:
›ez ist iu beiden wol erkant,
vrô Pallas und vrô Jûne,
daz allenthalp Fortûne
vor ungelücke schirmet niht.
wer mac vor leider ungeschiht
behüeten sich die lenge?
der sælden anegenge
belîbet niht an einer stat.
jô walzet ir gelückes rat

entgegenzuhalten und sprach sogleich:
›Es ist euch beiden zweifellos bekannt,
Frau Pallas und Frau Juno,
dass Fortuna nicht immer
das Unglück fernhält.
Wer bleibt vor unglücklichen Zufällen
auf die Dauer verschont?
Das Fundament des Heils
bleibt nicht an einem Ort.
Und überhaupt: ihr Glücksrad dreht sich

Freitag, 6. Februar 2015

2331-2340

diu minne knüpfet an ir zagel:
ir ende ist der getriuwen hagel.‹
Vênus, der minne meisterîn,
von schulden muoste zürnic sîn
durch dise vrevelichen rede.
si was ir muote ein überlede
und ir sinnes bürde.
man seit, daz si dâ würde
von zorne bleich, grüen unde rôt.
antwurt si willeclichen bôt

hinter sich herzieht:
Am Ende ist sie eine Katastrophe für die, die treu sind.‹
Venus, die Herrin der Minne,
hatte allen Grund, zornig zu sein,
wegen dieser rücksichtslosen, frechen Rede,
die ihr Gemüt bedrückte und
auf ihrem Geist lastete.
Man sagt, dass sie daraufhin
vor Zorn erbleichte und grün und rot wurde.
Sie war bereit, den Damen eine Antwort

[Das »an den Schwanz geknüpft« übersetze ich mit »hinter sich herzieht«.]

Donnerstag, 5. Februar 2015

2321-2330

nâch ir friunde sich erhienc.
swaz minne wandels ie begienc,
daz sol man ahten cleine
biz an die schulde aleine,
daz si getriuwen herzen
des grimmen tôdes smerzen
ze jungest gît ze lône.
Vênus, der wirde crône
sol dir hie werden tiure,
sît bitterlîche siure

nach ihrem Geliebten erhängte.
Welche Dinge die Minne auch immer ins Werk gesetzt haben mag,
das sollte man geringschätzen –
mit Ausnahme der Schuld,
dass sie treue Herzen
zuletzt mit den grimmen Schmerzen
des Todes belohnt.
Venus, für die Krone der Ehre
soll hier und für Dich ein hoher Preis gelten,  
da die Minne saure Bitterkeit 

[Statt von einer »bitteren Säure« spricht die Übersetzung von »saurer Bitterkeit«; das dürfte eingängiger sein. Mit der Übersetzung des Verses 2329 bin ich nicht so recht glücklich.]

Mittwoch, 4. Februar 2015

2311-2320

hie vor nâch Riwalîne tôt!
wie starp diu liehte blunde Ysôt
durch ir friunt Tristanden!
wie stach mit sînen handen
Pîramus ze tôde sich
und sîn âmîe wunneclich,
diu Tisbê geheizen was!
des grimmen tôdes niht genas
Phyllis, diu hôchgeborne,
wan si von leides zorne

die schöne, unschuldige Blanschiflur!
Wie starb die strahlende blonde Ysot
wegen ihres Geliebten Tristan!
Wie stach sich mit eigenen Händen
Priamus zu Tode
und seine herrliche Geliebte,
die Tisbe hieß!
Dem grimmen Tod entging Phyllis,
die hochgeborene, nicht, 
als sie sich im Zorn, den das Leid hervorrief,

[Ich übersetze »reine« mit zwei Begriffen, um die Spannbreite des Wortes deutlich zu machen.]

Dienstag, 3. Februar 2015

2301-2310

der einweiz niht, waz er seit.
man sol witz unde rîcheit
vür alle minne rüemen.
niht langer darft dû blüemen
si mit werdekeit alsus.
dû solt daz wizzen, Vênus,
daz dir der apfel niht enwirt.
diu minne süezem friunde birt
vil ofte ein bitter ende sûr.
wie lac diu reine Blanschiflûr

der weiß nicht, was er redet.
Man muss Weisheit und Reichtum
mehr belobigen als jede Minne.
Du darfst sie nicht länger
mit hohem Ansehen schmücken.
Das muss dir klar sein, Venus,
dass du den Apfel nicht bekommst.
Die Minne bringt dem süßen Freund
häufig ein bittres, saures Ende.
Wie starb doch einst nach Riwalin

[Ich übersetze »reine« mit zwei Begriffen, um die Spannbreite des Wortes deutlich zu machen.]

Sonntag, 1. Februar 2015

2291-2300

vür aller hande tugende ruom.
si lât witz unde rîchtuom
sich kündeclichen treffen
und alsô vaste ereffen,
daz si des wænet, daz ir sî
mit triuwen manic herze bî,
daz mit valsche ist überladen.
si kan behüeten sich vor schaden
kûm oder lîhte niemer.
swer si gelobet iemer,

anstatt der Ehre, die manigfachen Tugenden entspringt.
Sie lässt Weisheit und Reichtum
einander geschickt treffen
und sich so ganz und gar zum Narren machen,
dass sie meint, dass ihr
so manches Herz treu sei,
das mit Treulosigkeit erfüllt ist.
Sie kann sich vor Schaden
kaum, eigentlich gar nicht schützen.
Wer auch immer sie lobt,