Donnerstag, 30. April 2015

2781-2790

der hât den wunsch ûf erden.
witz unde guot muoz werden
durch der minne lôn verzert.
daz manic vürste hôhe vert,
daz wirt ze dienest ir getân.
Vênus diu sol den apfel hân,
daz erteil ich ir bî namen
und wil mich niemer des geschamen,
swâ man daz verwîzet mir,
daz ich in hân gegeben ir.‹

der hat alles, was man sich auf Erden nur wünschen kann.
Weisheit und Besitz müssen
durch den Lohn der Minne aufgezehrt werden.
Dass so mancher Fürst vermessen handelt,
das geschieht in ihrem Dienst.
Venus muss den Apfel haben,
den spreche ich ihr wahrlich zu
und werde mich dafür nie schämen,
wo auch immer man mir das vorwirft,
dass ich ihn ihr gegeben habe.‹

2771-2780

diu neme in, daz erteil ich hie;
wan ez enwart kein wirde nie
sô rîlich als ir êre.
diu minne mit ir lêre
machet mangen hôchgemuot,
den weder wîsheit, noch daz guot
kan fröudenrîch gemachen.
minn ist vor allen sachen
gewirdet und getiuret.
swen ir genâde stiuret,

die nehme ihn, das lege ich hiermit fest;
schließlich gab es nie einen Grad an Würdigkeit
so herrlich wie ihr Ansehen.
Die Minne beglückt so manchen
mit ihrer Lehre,
den weder Weisheit noch der Besitz
freudenvoll machen kann.
Die Minne ist gegenüber allen Dingen
geehrt und gepriesen.
Wen auch immer ihre Gnade lenkt,

Montag, 27. April 2015

2761-2770

daz sunder zorn belibe daz
und âne vîentlichen haz,
ob ich den prîsant einer gebe,
diu nâch mînem dunke lebe
an der hœhsten werdekeit.
ich wil daz hiute ûf mînen eit
und ûf al mîn êre nemen,
daz der apfel sol gezemen
der hôchgelopten minne.
Vênus, ir meisterinne,

dass mir das keinen Zorn zuziehe
und keinen feindseligen Hass,
wenn ich die Gabe einer gebe,
die meiner Meinung nach
in höchstem Ansehen steht.
Ich will dafür heute mit meinem Eid
und mit meinem ganzen Ruf einstehen,
dass der Apfel der hochgelobten
Minne würdig ist.
Venus, ihre Beherrscherin,

Donnerstag, 23. April 2015

2751-2760

und sîn spilende kintheit,
daz ir sîn helfe wart bereit
und der dienest sîn bekant.
›ir frouwen‹, sprach er alzehant,
›ich hân gehœret wol den strît,
der under iu bî dirre zît
umb den apfel ist getân.
sît nû der criec an mich verlân
ist und ich in scheiden sol,
sô darf ich der genâden wol,

und seine unbekümmerte Jugend,
dass ihr seine Hilfe zuteil
und seine Dienstfertigkeit offenkundig wurde.
›Ihr Damen‹, sprach er sogleich,
›ich habe mir den Streit genau angehört
der jetzt zwischen euch
wegen des Apfels vorgefallen ist.
Da nun die Auseinandersetzung mir übertragen wurde
und ich sie schlichten muss,
so habe ich das Wohlwollen nötig,

[Das neuhochdeutsche »Gnade« wäre sicherlich stärker als das »Wohlwollen«; aber letzteres scheint mir klarer und verständlicher zu sein.]

Mittwoch, 22. April 2015

2741-2750

daz wunder an im tougen,
daz er muost âne lougen
nâch hôher minne siechen.
daz Helenâ von Kriechen
geheizen im ze lône was,
des nam er an sich unde las
den willen und die sinne,
daz er gestuont der minne
alsam ir eigenlicher kneht.
ouch twanc in daz gemeine reht

heimlich bei ihm dieses Wunder,
dass er ganz zweifellos
krank wurde wegen der hohen Minne.
Dass ihm Helena aus Griechenland
als Belohnung versprochen wurde,
das machte er sich zu eigen und er richtete
Sinne und Willen darauf,
dass er sich zur Minne bekenne,
ganz so als wäre er ihr zu Diensten und ihr Eigentum.
Auch zwang in das Gemeine Recht

[Was genau mit »an sich nehmen« gemeint ist, ist mir nicht klar. Auch das anschließende »lesen« irritiert mich ein wenig. Warum zwingt ihn das »Gemeine Recht«?]

Dienstag, 21. April 2015

2731-2740

an vröuderîchem muote,
ê wolten si von guote
sich ziehen und von witzen.
dâ von Pârîs besitzen
enwolte weder schaz, noch kunst;
ze fröuden kêrte er sînen gunst
und ûf die minne hôchgemuot,
diu vür wîsheit und vür guot
durliuhtic in sîn herze gleiz.
Vênus geschuof und ir geheiz

eine Gesinnung verzichten müsste, die von Freude erfüllt ist,
würde sie zuvor lieber Besitz
und Weisheit aufgeben.
Deshalb wollte Paris
weder Reichtümer noch Begabung;
der Freude wendete er seine Aufmerksamkeit zu
und der stolzen Minne,
die alles hell durchleuchtend statt Weisheit und Besitz
in sein Herz strahlte.
Venus bewirkte – und ihr Versprechen –,

[Ist es korrekt, »vür wîsheit und vür guot« mit »statt Weisheit und Besitz« zu übertragen? Oder sollte man im Sinne von »stärker als« übersetzen?]

Montag, 20. April 2015

2721-2730

sô vröude ist unde wunnespil.
der witze enahtent si niht vil
und sint nâch guote niht verdâht.
würd eht ir wille vollebrâht
mit kurzewîle und gelust,
si liezen vür des herzen brust
schaz unde wîsheit wenken,
noch künden niht gedenken,
wie man die beide erwürbe.
ê daz diu jugent verdürbe

wie Freude und die Spiele der Beglückung.
Auf die Weisheit geben sie nicht viel
und sie sind nicht auf Reichtümer versessen.
Wenn nur ihr Wille geschehe,
mit Vergnügungen und Freuden,
dann würden sie Reichtümer und
Weisheit aus ihrem Herzen weichen lassen
und würden auch nicht darauf kommen,
wie man die beiden erlangen könnte.
Bevor die Jugend auf

[»wunnespil« ist schwer zu übersetzen; die klassischen Wörterbücher scheinen in diesem Fall auch nicht allzu hilfreich zu sein, so dass man sich wohl die Belegstellen ansehen müsste, um genauer zu verstehen, wie das Wort verwendet wird und welche Vorstellungen damit evoziert werden.]

Freitag, 17. April 2015

2711-2720

begund er dâ besunder.
nû dûhte minne drunder
vil bezzer sînes herzen muot,
denn alliu witze und allez guot.
In twanc dar zuo diu blüende jugent
und sîn angeborniu tugent,
daz sîn gemüete ûf minne stuont.
er tet alsam die jungen tuont,
die von natûre sint der art,
daz in sô liebes nie niht wart,

für sich zu erwägen.
Nun schien ihm in seinem Herzen
von diesen Dingen Minne besser zu sein
als alle Weisheit und aller Reichtum.
Dazu zwang ihn die blühende Jugend
und seine angeborne Tugend,
dass sein Sinn auf Minne gerichtet war.
Er verhielt sich so, wie es die jungen tun,
die von Natur so geschaffen sind,
dass ihnen nichts je so angenehm wird

Donnerstag, 16. April 2015

2701-2710

bestaten möhte rehte;
des wart vil nôt dem knehte
liutsælic unde schœne.
der drîen vrouwen lœne
begund er merken tougen
und spien dô für sîn ougen
minne, wîsheit unde hort.
ir ende, ir mittel und ir ort
wolt er vil gar betrahten.
ir iegeliches ahten

zu Recht zuweisen würde;
Das brachte den jungen Mann, der schön
und bei den Leuten beliebt war, in Bedrängnis.
Die Gaben der drei Damen
begann er heimlich zu bewerten
und da waren hingeworfen vor seinen Augen
Minne, Weisheit und Reichtum.
Ihr Ziel, ihr Mittel und ihren Ausgangspunkt
wollte er vollständig bedenken.
Da begann er, jedes davon

[»spien« in V. 2706 dürfte zu »spîwen«, neuhochdeutsch »speien«, gehören. Sollte man »mittel« mit »Mitte« oder »Mittelpunkt« übersetzen?]

Mittwoch, 15. April 2015

2691-2700

sô lopt im Pallas wîsheit,
Vênus diu wolt im lân bereit
minn unde trûtschaft werden:
sus wart im ûf der erden
geheizen drîer hande dinc.
dâ von sô wart der jungelinc
bekümbert mit gedenken.
sîn muot begunde wenken
dar unde dan, her unde hin,
daz er den apfel under in

Pallas dagegen verhieß ihm Weisheit und
Venus, die wollte ihm bereitwillig
Minne und Liebe zuteil werden lassen:
Auf diese Weise wurden ihm
drei verschiedene irdische Dinge versprochen.
Dadurch geriet der Jüngling
mit seinen Gedanken in Sorge.
Seine Meinung fing an, sich
hin und her – und her und hin zu wenden,
damit er den Apfel einer von ihnen

Dienstag, 14. April 2015

2681-2690

Alsus gelopten bî der zît
die drî götinne enwiderstrît
Pârîse ir hôhen prîsant.
ir iegelîchiu dô zehant
im sunderlîche miete bôt,
dur daz er si niht schamerôt
des mâles werden lieze
und ir den apfel hieze
dâ geben sunder widersaz.
vrô Jûne diu gehiez im schaz,

Auf diese Weise versprachen zu dieser Zeit
die rivalisierenden Göttinnen dem
Paris ihre immensen Gaben.
Jede von ihnen bot ihm sofort
eine spezielle Belohnung,
damit er sie nicht vor Scham erröten lasse
bei dieser Gerichtsverhandlung
und ihr den Apfel
ohne Feindschaft und Widerstreben zuspreche.
Frau Juno, die versprach ihm Reichtum,

[Für »mahel, mâl« (Vers 2687) finden sich in Lexers Handwörterbuch die Übersetzungen » gerichtsstätte, gerichtl. verhandlung, gericht, vertrag«. »widersaz« in Vers 2689 übersetze ich mit zwei Wörtern, um das Bedeutungsspektrum anzuzeigen.]

Montag, 13. April 2015

2671-2680

sus kan diz wunneclîche wîp
mit ir clârheit mangen lîp
an sich ziehen unde nemen.
lâst dû den apfel mir gezemen,
sô gib ich ez ze lône dir.
gestant niuwan der wârheit mir,
dîn vröude diu wirt manicvalt!
diu minne, der ich hân gewalt,
lât dich in hôher wunne leben,
wirt mir der apfel hie gegeben.‹

eben so kann diese herrliche Frau
mit ihrer Schönheit so manchen Menschen
an sich ziehen und zu sich nehmen.
Wenn du den Apfel meiner würdig findest,
dann gebe ich es dir als Lohn.
Bekenne mir nichts als die Wahrheit
und deine Freude, die wird reichhaltig und vielfältig sein!
Die Minne, über die ich bestimme,
lässt dich in großer Glückseligkeit leben,
wenn ich hier den Apfel erhalte.‹

[Warum soll »ez« als Lohn gegeben werden?]

Freitag, 10. April 2015

2661-2670

ist aller vrouwen crône;
si lebt in êren schône
und in der tugende huote;
von vleische, noch von bluote
wart nie crêatiure
sô clâr, noch sô gehiure
sô diu schœne Elêne.
nû sich, wie diu Syrêne
und ir süezes dônes grif
ziehe an sich vil manic schif,

trägt unter allen Frauen die Krone.
Sie lebt fest mit allen Ehren
und behütet durch die Tugend.
Noch nie war ein Geschöpf
weder in Fleich noch von Blut
so herrlich oder so bezaubernd
wie die schöne Helena.
Schau nur, wie die Sirene
und das Greifen ihres süßen Gesangs
viele Schiffe zu sich zieht,

2651-2660

sô tuo mir dîne helfe schîn.
hilf, daz der apfel werde mîn
und ich diu beste sî genant.
Helêne von der Kriechen lant,
diu schœner ist denn elliu wîp,
diu muoz ir leben und ir lîp
an dich mit vlîze kêren,
ist, daz ich hie mit êren
die sigenuft gewinne.
diu selbe küniginne

darum bekunde mir deine Unterstützung.
Hilf dazu, dass der Apfel mir gehören wird
und ich als die Beste bezeichnet werde.
Helena aus dem Land der Griechen,
die schöner ist als alle Frauen,
die wird sich selbst und ihr Leben
eifrig dir widmen,
wenn ich hier auf ehrenvolle Weise
den Sieg erringe.
Die genannte Königin

Mittwoch, 8. April 2015

2641-2650

ze teile mir noch hiute.
ich gibe dir unde biute
die minne z'einem solde,
diu silber unde golde
und hôher wîsheit an gesigt.
ir kraft diu brichet unde wigt
vür alle witze und allez guot;
dâ von sô kêre dînen muot
ûf ir lôn, getriuwer kneht.
sît daz dû weist, daz ich hân reht,

noch heute zueigen machst.
Ich gebe und biete dir
die Minne als Lohn,
die Silber und Gold
und große Weisheit überwindet.
Ihre Kraft, die durchbricht und durchdringt
alle Weisheit und allen Besitz;
richte deshalb, treuer Knabe,
dein Sinnen und Trachten auf ihren Lohn.
Und weil du weißt, dass ich recht habe,

[»wegen« (»wigt«) in Vers 2646 ist schwer zu übersetzen. Es kann »bewegen, wiegen, schwingen, schütteln« heißen, aber auch »helfen, beistehen« und anderes.]

Dienstag, 7. April 2015

2631-2640

sô lâ dû mich den apfel hân!‹
›Pârîs, getriuwer friunt, lâ stân!‹
sprach Vênus dô wider in.
›hilf mir, daz ich den apfel hin
mit rehte ziehen müeze,
vil werder knappe süeze,
des lône ich dir mit willen.
dîn trûren wil ich stillen
mit fröuden ûf der erden,
lâst dû den prîsant werden

komm, lass mich den Apfel haben!‹
›Paris, treuer Freund, tu’s nicht!‹
sagte daraufhin Venus zu ihm.
›Hilf mir, dass ich den Apfel
rechtmäßig mit mir nehme,
süßer, teurer Jüngling,
dafür werde ich dich bereitwillig belohnen.
Deine Trauer werde ich beenden
mit irdischen Freuden,
wenn du mir die Gabe

Mittwoch, 1. April 2015

2621-2630

ze helfe an mînem kriege habe.
dû bist der jâre noch ein knabe,
dâ von bedarft dû witze wol,
der ich dir wunder geben sol,
ob dû mir rehtes hie gestâst.
swie dû mich hiute erwerben lâst
der hôhen sigenüfte prîs,
ich mache dich sô rehte wîs,
daz nie kein man sô wîse wart.
sît dû bescheiden bist von art,

als Hilfe für meinen Kampf.
Du bist an Jahren noch ein Kind,
deshalb kannst du Weisheit gut gebrauchen,
von der ich dir im Übermaß geben will,
wenn Du mir hier in Sachen des Rechts beistehst.
Wie auch immer du mich heute
den Lobpreis großen Triumphes erhalten lässt,
ich werde dich so ganz gescheit machen,
so weise, wie nie ein Mann geworden ist.
Weil Du von Natur aus bescheiden bist,

[Der Vers 2625 macht mir ein wenig Kopfzerbrechen. Ist soetwas gemeint wie: »Wenn du mir zu meinem Recht verhilfst«?]