Freitag, 29. Mai 2015

2961-2970

und alsô rehte vîn erdâht.
diu cleider wâren vollebrâht
rîlichen unde schône gnuoc.
roc unde suggenîe truoc
Pârîs der küniclichen wât,
diu niht z' ein ander doch genât
was mit vademen sîdîn.
dâ die næte solten sîn,
dâ wâren cleiniu vürspan
ûz golde wunneclichen an

und überaus fein erdacht.
Die Kleidungsstücke waren fertig
und sie waren herrlich und überaus schön.
Paris trug von diesem königlichen Stoff
den Rock und darüber das Kleid.
Der Stoff war nicht mit Hilfe eines seidenen Fadens
miteinander vernäht.
Dort, wo die Nähte sein müssten,
da waren kleine Spangen
aus Gold herrlich

[Mir fehlt eine kluge Übersetzung des ironischen »schône gnuoc«!]

Donnerstag, 28. Mai 2015

2951-2960

mit margarîten wâren
und mit ir schîne bâren
den ougen wunneclich gemach.
man spürte, weizgot, unde sach
ûf den strîfen steine gnuoc,
die kein gebirge nie getruoc,
noch diu erde brâhte für.
si wâren nâch des herzen kür
ûz tiefer sinne grunde
erwünschet mit dem munde

aufgesetzt und angebracht waren.
Mit ihrem Leuchten bereiteten die Streifen den Augen
ein herrliches Wohlbehagen.
Man spürte und – weiß gott! – man sah
auf den Streifen mehr als genug Steine,
die weder je von einem Gebirge getragen
noch von der Erde hervorgebracht wurden.
Sie waren, ganz nach Herzens Wunsch,
mit Hilfe des Mundes vom
Grund tiefer Sinne und tiefen Denkens hergewünscht

[Um das Bedeutungsspektrum von »sin« anzudeuten, übersetze ich mit »Sinne und Denken«.]

Mittwoch, 27. Mai 2015

2941-2950

was in des halben teiles velt.
ûf ez was hôher koste gelt
geleit durch vrîen übermuot.
daz ander teil der wæte guot
was ein purper vîolvar
mit hovelichem vlîze gar
nebent den cyclât gesniten.
dâ wâren strîfen în gebriten
ûz grüener sîden vingers breit,
die wol besetzet und beleit

in den Bereich der einen Hälfte. Dafür wurde,
was die Kosten anbelangt, großer Aufwand
getrieben mit unbekümmerter, stolzer Gesinnung.
Die andere Hälfte der vortrefflichen Kleidung
bestand aus einem purpurnen veilchenfarbenen Kleiderstoff,
der mit höfischer Gewissenhaftigkeit so zugeschnitten wurde,
dass er direkt an den golddurchwebten Seidenstoff angrenzte.
Da waren Streifen hineingeflochten,
einen Finger breit, aus grüner Seide,
auf die Perlen schön

[Ist »velt« hier ein heraldischer Fachbegriff? In Lexers Mittelhochdeutschem Handwörterbuch wird unter anderem angeführt: »feld im wappen, auf dem schilde, der fahne«. Ich ergänze ein »angrenzen«, weil ich sonst keinen verständlichen Satz zuwege bringe.]

Dienstag, 26. Mai 2015

2931-2940

z'ein ander von zwein tuochen rîch,
diu beidiu wâren ungelîch,
an schîne und an der varwe.
daz halbe teil was garwe
der aller beste cyclât,
der ie gezierte künges wât
oder keiserlich gewant:
als ob ez allez wære enbrant,
seht, alsô gleiz dar ûz daz golt,
daz getragen und geholt

aus zwei wertvollen Stoffen,
die beide verschieden waren,
was die Leuchtkraft und die Farbigkeit anbelangt.
Die eine Hälfte war vollständig
aus dem allerbesten, golddurchwebten Seidenstoff,
der je die Kleidung eines Königs
oder das Gewand eines Kaisers schmückte.
Seht, wie wenn es ganz und gar entzündet wäre,
so strahlte daraus das Gold,
das geholt und getragen worden war

[BMZ: »CIKLÂT stm. stn. kostbarer seidenstoff mit gold durchwebt. mlat. cyclas.«]

Freitag, 22. Mai 2015

2921-2930

und ir genâden stiure.
wan ez enwart sô tiure
cleit von henden nie genât,
sô disiu kostbærlîchiu wât,
die Pârîs des mâles truoc;
si was dar zuo vil gar ze cluoc,
daz si trüege ein irdisch man,
si möhte ein glanzer engel an
mit grôzen êren hân geliten.
si was geteilet und gesniten

und auch mit ihrer wohlwollenden Unterstützung,
denn nie haben Hände so wertvolle
Kleidungsstücke genäht
wie diese kostbare Kleidung,
die Paris damals trug.
Zudem war sie ganz und gar zu fein,
als dass sie ein irdischer Mann tragen würde:
ein strahlender Engel hätte sie sich
mit großem Ansehen gefallen lassen können.
Das Kleid war geteilt und voneinander getrennt,

Donnerstag, 21. Mai 2015

2911-2920

der jungelinc diu cleider an.
ein schapel, daz von golde bran
und von gesteine lieht gemâl,
daz wart im ûf dâ sunder twâl
gesetzet von ir hende wîz.
si leite ûf in gar hôhen vlîz
und einen günstebæren sin.
sus wart von ir der knappe hin
zuo dem gestüele wider brâht.
in hete ir helfe wol bedâht

der Jüngling die Kleider an.
Ein Kranz, der mit Gold glänzte
und mit hell leuchtenden Edelsteinen,
der wurde ihm ohne zu zögern
von ihren weißen Händen aufgesetzt.
Sie verwendete auf ihn sehr große Sorgfalt
und war ihm wohlwollend gesinnt.
So wurde der junge Mann von ihr
wieder zu den Stühlen gebracht.
Mit ihrer Hilfe hatte sie sich sorgfältig um ihn gekümmert

Mittwoch, 20. Mai 2015

2901-2910

›wie diz gewant ze hove tüge.
ich sol versuochen, ob ich müge
ûz armekeite dich geschüten.
ê Pallas unde Jûne büten
dir mit worten smâheit,
dur daz dû trüegest armiu cleit,
ê gæb ich dir sô rîche wât,
daz nieman hie ze hove hât
sô rehte keiserlich gewant.‹
hie mite leite dô zehant

›wie sich diese Kleidung am Hof macht.
Ich werde versuchen, ob es mir gelingt,
dich der Armut zu entkleiden.
Statt dass Pallas und Juno
dir mit Worten ihre Verachtung zeigen,
weil du ärmliche Kleider trägst,
gebe ich dir lieber so teure Kleidungsstücke,
dass niemand hier am Hof
so geradezu kaiserliche Kleider hat.‹
Daraufhin legte dann sofort

[»schüten« kann auch das ab- und anlegen der Rüstung bezeichnen.]

Dienstag, 19. Mai 2015

2891-2900

ab dem gestüele rîch erkant.
Pârîsen nam si bî der hant
und fuorte in balde in ir gezelt.
si wolte im rîches lônes gelt
ze solde bieten unde geben.
ein cleit von sîden wol geweben,
daz ein wildiu feine span,
daz tet si dem juncherren an:
dâ von wart sîn gemüete vrô.
›Pârîs, lâ sehen‹, sprach si dô,

von den Stühlen, deren Kostbarkeit bekannt war.
Sie nahm Paris bei der Hand
und führte ihn sogleich in ihr Zelt.
Sie wollte ihm als Bezahlung einen gewaltigen Lohn
als Vergeltung für geleistete Dienste anbieten und geben.
Ein aus Seide schön gewebtes Kleid,
das eine Fee, die in der Wildnis lebt, gesponnen hat,
das legte sie dem jungen Herren an.
Dadurch wurde er froh und heiter.
›Lass sehen, Paris‹, sagte sie da,

[»gestüele« mit »Stühlen« zu übersetzen, ist irgendwie nicht zufriedenstellend. Aber was sollte man sonst nehmen?]

Montag, 18. Mai 2015

2881-2890

lop unde prîs enphlœhet.
Pârîs der wart erhœhet
ze hove und in dem lande.
sîn êre maniger hande
wart durch sîn gerihte sleht.
in allen den geviel sîn reht
nâch wunsche, wan eht disen zwein,
die wâgen dô sîn ›jâ‹ vür ›nein‹
und truogen im ir vîentschaft.
Vênus diu gie dô sigehaft

Lob und Preis geraubt worden war.
Paris, der wurde hochgelobt
am Hof und im Land.
Sein Ansehen wurde in verschiedener Hinsicht
durch sein Urteil gestärkt.
Ihnen allen schien seine Urteilskraft
tadellos, nur halt nicht diesen beiden,
die da sein ›Ja‹ für ein »Nein‹ nahmen
und ihm feindlich gesinnt waren.
Venus, die ging dort siegreich

Freitag, 15. Mai 2015

2871-2880

und der knappe stæte
den strît gescheiden hæte
ân alle missewende:
der criec der nam ein ende
mit disen dingen und alsus.
der minne frouwe, Vênus,
wart der sigenüfte vrô,
sô was diu frouwe Jûnô
vil trûric unde Pallas,
dar umbe daz in beiden was

und treue Jüngling
den Streit ganz und gar tadellos
geschlichtet habe.
Der Kampf, der ging zuende,
mit diesen Dingen und auf diese Weise.
Die Herrin der Minne, Venus,
war froh über den Sieg
und ebenso zeigten sich die Frauen Juno
und Pallas sehr traurig,
weil ihnen beiden

[Kann man »stæte« mit »treu« übersetzen? Inhaltlich scheint es mir sinnvoll zu sein.]

Mittwoch, 13. Mai 2015

2861-2870

wan er ist dir ein teil ze rîch,
dîn reht ist allez ungelîch.‹
Die rede triben dise zwô
mit Pârîse in zorne dô,
wan si wâren im gehaz;
doch wac er harte ringe daz
und ahte drûf vil cleine,
wan alle die gemeine,
die dâ sâzen umb den rinc,
die sprâchen, daz der jüngelinc

weil er dir dann doch etwas zu vornehm ist.
Deine Rechtsprechung ist ganz unausgewogen.‹
Diese Rede hielten diese beiden
da zornig mit Paris,
weil sie ihn hassten;
das ließ ihn allerdings ziemlich kalt
und er achtete darauf minimalst,
weil alle die gemeinsam
dort im Kreis saßen,
die sagten, dass der junge Mann

[Mit der Übersetzung des Verses 2862 bin ich nicht so recht glücklich; sollte man »reht« mit »Urteil« übersetzen? Und was genau meint hier »ungelîch«?]

Dienstag, 12. Mai 2015

2851-2860

swâ man niht schœner witze hât.
liep âne guoten lîprât
daz leidet ouch vil gerne.
ganc wider unde lerne
daz vihe dîn verslihten!
dû kanst die liute rihten
vil anders, denne in wol gezeme.
daz im got al sîn êre neme,
der Pârîs dich geheizen habe!
tuo dich des hôhen namen abe,

wo auch immer man nicht über strahlende Klugheit verfügt.
Angenehmes ohne gute Leibesnahrung,
das wird einem auch schnell zuwider.
Geh’ zurück und lerne,
deine Tiere zu versöhnen!
Du richtest über die Leute
anders, als es ihnen gebührt.
Gott möge ihm all sein Ansehen nehmen,
der dich Paris genannt hat!
Leg den hohen Namen ab,

[Wenn »schön«, wie das Grimm’sche Wörterbuch schreibt, etwas mit »schauen« zu tun haben könnte (deshalb auch »hell«, »leuchtend« als nhd. Übersetzungsvorschläge in den mhd. Wörterbüchern), dann ist vielleicht »strahlend« in V. 2851 eine recht treffende Übersetzung. »lîprât« mit »Leibesnahrung« zu übersetzen, scheint mir nicht wirklich zufriedenstellend zu sein; sollte man »Geistesnahrung« übersetzen?]

Montag, 11. Mai 2015

2841-2850

die wîle dû geleben kanst.
sît dû der minne lobes ganst
und ir erfüllet hâst ir gir,
sô warte ouch, wie si lône dir
unde diene ir ûf ir solt.
kunst oder silber unde golt
wæren diu niht alsô guot,
sô minne bî der armuot
und âne wîse lêre?
jâ minne swachet sêre,

so lange du am Leben bist.
Weil du der Minne Ehre gewährst
und ihrem Verlangen entsprochen hast,
so schau nun auch, wie sie es dir lohnt
und diene ihr für ihren Lohn.
Geschicklichkeit und Können – und auch Gold und Silber,
wären die nicht ebenso gut
wie Minne inmitten von Armut
und ohne Weisheit?
Ja, die Minne erniedrigt sehr,

Sonntag, 10. Mai 2015

2831-2840

dir werde, tumber jungelinc,
den iz ûf erden unde trinc
und lebe kumberlichen!
dû bist dâ her gestrichen
wîstuomes unde guotes bar,
nû kêre ouch wider unde var
sunder witze und âne hort.
dû bist ein gouch gewesen dort
und ein amrez hirtelîn,
diu beidiu muost ouch iemer sîn,

erhältst, törichter Junge,
den esse auf Erden und trinke ihn
und lebe sorgenschwer!
Du bist hierher gelaufen
ganz ohne Weisheit und Besitz,
nun geh’ auch wieder zurück –
ohne Wissen und frei von Schätzen.
Dort bist du ein Narr gewesen
und ein armes Hirtlein
und beides musst du auch für immer bleiben,

[»Hirtlein« für »hirtelîn« scheint mir noch nicht die ideale Lösung zu sein. Vielleicht einefach »kleiner Hirte«?]

Donnerstag, 7. Mai 2015

2821-2830

ein wênic rehter hân getân.
wer solte rîche sache lân
an hirten ûz dem walde?
ganc zuo dem vihe balde,
von dem dû bist geloufen her!
uns möhte wol her Jûpiter
anders hân verslihtet.
nû wol, dû hâst gerihtet
dir selber z'ungewinne.
den lôn, der von der minne

ja wohl etwas rechter machen können.
Wer übergibt denn große, gewaltige Sachen
an Hirten aus dem Wald?
Geh’ schnell zum Vieh,
von dem du hergelaufen bist!
Über uns hätte Herr Jupiter sicher
anders geurteilt.
Nun gut, du hast entschieden –
dir selbst zum Schaden.
Der Lohn, den du von der Minne

2811-2820

Si wart von dem cleinœte geil,
wan si dûhte ein rîchez heil,
daz ir der apfel worden was.
vrô Jûnô und vrô Pallas
die wurden beide an vröuden tôt.
beswæret unde schamerôt
sprâchen si Pârîse zuo:
›daz dich Unsælde trûric tuo!
wie kanst dû kriege scheiden.
dû möchtest wol uns beiden

Sie wurde durch das Kleinod überglücklich,
denn es schien ihr ein großes Glück zu sein,
dass sie den Apfel bekommen hat.
Frau Juno und Frau Pallas
die erlitten beide an der Freude den Tod.
Betrübt und rot vor Scham
sagten sie zu Paris:
›Das Unglück soll dich in Trauer stürzen!
Wie kannst du Streitfälle schlichten?
Du hättest es uns beiden

[Vielleicht ist »Glück« hier eine schlechte Übersetzung für »heil«; aber »Segen« oder »Gewinn« dürften auch nicht viel besser sein.]

Dienstag, 5. Mai 2015

2801-2810

an êren und an werdekeit,
der crône ist wol an iuch geleit
und der apfel schœne.
ich prîse iuch unde krœne
mit lobe in allen mînen tagen.
künn ieman anders iht gesagen,
der spreche sunder mînen zorn.‹
sus nam diu götîn ûz erkorn
den apfel wunneclich gestalt
mit hôhem muote in ir gewalt.

was das Ansehen und die Würde anbelangt.
Die Krone steht euch gut zu Gesicht,
wie auch der schöne Apfel.
Euch rühme und kröne ich
mit Lobpreis mein ganzes Leben lang.
Vermag jemand etwas anderes zu sagen,
der spreche, ohne sich meinen Zorn zuzuziehen.‹
So nahm denn die auserwählte Göttin
den herrlich gestalteten Apfel
hocherfreut in Besitz. 

2791-2800

Hie mite stuont er ûf zehant.
er nam den rîchen prîsant
in sîne blanken hende sider
und kniete hovelîche nider
vür der minne vrouwen.
er lie si dô beschouwen,
daz er wolte ir diener sîn,
er sprach: ›erweltiu künigîn,
enphâhent diz cleinœte rîch.
kein frouwe mac iu sîn gelîch

Damit stand er sogleich auf.
Er nahm dann die wertvolle Gabe
in seine weißen Hände
und kniete auf höfische Weise vor
der Herrin der Minne nieder.
So ließ er sie sehen,
dass er ihr Diener sein wollte;
er sagte: ›Auserwählte Königin,
nehmt dieses wertvolle Kleinod entgegen.
Keine Dame kann sie mit euch vergleichen,