Freitag, 31. Juli 2015

3351-3360

Seht, alsô kômen dise zwô
des über ein vil schiere dô,
daz si den wirt besunder hin
dô fuorten und ouch wider in
sprâchen mit gelîcher ger:
›herr unde got, her Jûpiter,
lânt ir geschehen disiu dinc,
daz dirre stolze jungelinc
mit Prîamô von hinnen vert,
ir sint an êren gar verhert,

Schaut, so hatten sich diese zwei
dort ganz schnell darüber verständigt,
dass sie den Gastgeber allein dorthin
führten und auch einmütig
zu ihm sagten:
›Herr und Gott, Herr Jupiter,
wenn ihr diese Sache geschehen lasst,
so dass dieser stolze Jüngling
mit Priamus von hier fortgeht,
dann ist euer Ansehen völlig zerstört,

Donnerstag, 30. Juli 2015

3341-3350

ze smâheit, diu der minne pflac.
ir beider muot sich dar ûf wac,
daz der gast belibe alsus
und der künic Prîamus
der Minne müeste sîn gehaz,
durch daz si niht geschüefe daz,
daz Pârîs mit im kêrte,
noch in des niht enêrte,
daz der vil tugentbære
sîn ingesinde wære.


die sich um die Minne kümmerte, zu demütigen.
Die beiden hatten sich in den Kopf gesetzt,
dass der Gast bleibe, wo er ist,
und der König Priamus
die Minne hassen müsse,
weil sie weder dafür Sorge trage,
dass Paris mit ihm komme,
noch ihm die Ehre verschaftte,
dass er, der überaus fähig war,
Teil seiner Gefolgschaft würde.

Mittwoch, 29. Juli 2015

3331-3340

lân geschehen ir den prîs,
daz der vil hübsche Pârîs
kêrte dan von ir gebote.
dâ von sô rieten si dem gote,
der Jûpiter dô was genant,
daz er den knappen alzehant
niht von im scheiden lieze
und er in selbe hieze
sîn stætez ingesinde sîn.
diz tâten si der künigîn

ihr nicht das Ansehen zukommen lassen,
dass der überaus schöne Paris
auf ihre Anweisung hin von dort aufbreche.
Deshalb rieten sie dem Gott,
der dort Jupiter genannt wurde,
dass er den Jüngling nicht gleich
von ihm weggehen lasse
und er selbst ihm gebiete,
künftig zu seiner Gefolgschaft zu gehören.
Dies taten sie, um die Königin,

Sonntag, 26. Juli 2015

3321-3330

mit herzen und mit sinne.
der minne küniginne
was ir zweiger lîp gehaz,
dâ von si beide muote daz
und was in ûzer mâzen leit,
daz man ir bôt die wirdekeit,
daz man si des juncherren bat
und ir ein künic an der stat
vlêhen umb in solte.
ir beider lîp niht wolte

mit Herz und Verstand.
Die Königin der Minne
hassten diese zwei und
deshalb betrübte die beiden das
und schmerzte sie über alle Maßen,
dass man ihr die Ehre bot,
dass man sie um den jungen Herrn bat
und bei ihr – hier und jetzt – ein König  
um ihn bitten musste.
Die beiden wollten

3311-3320

ze stætem ingesinde lihe.
daz si niht wider zuo dem vihe
in lieze kêren in den walt,
des wart dô von dem künige balt
gar vlîzeclîche an si gegert.
ouch hætes’ in der bete gewert
gern unde willleclichen dô,
wan daz dar umbe Jûnô
beswæret in ir muote was.
ouch streit derwider Pallas

als dauerhaftes Mitglied seiner Gefolgschaft zu Lehen gebe.
Dass sie ihn nicht wieder zu dem Vieh
in den Wald zurückkehren lasse,
darum bat sie dort der kühne König
mit großem Eifer.
Sie hätte auch seiner Bitte
gerne und bereitwillig entsprochen,
wenn nicht Juno deshalb
trübsinnig gewesen wäre.
Auch kämpfte Pallas dagegen

[Kann man »lîhen« hier mit »zu Lehen geben« übersetzen? »Verleihen« scheint mir keine gute Übersetzung zu sein.]

Freitag, 24. Juli 2015

3301-3310

vil lîhte worden von geschiht,
noch weiz von sînem adele niht.
dâ von sô dunket mich daz guot,
daz der knappe hôchgemuot
sam mir ze hûse rîte
und er dô schône bîte
des heiles und der lieben stunt,
daz ime sîn vater würde kunt.‹
Sus warp der künic Prîamus,
daz im Pârîsen Vênus

möglicherweise durch Zufall;
auch weiß er wohl nicht von seiner adligen Herkunft.
Deshalb scheint es mir gut zu sein,
dass der stolze Jüngling
mit mir nach Hause reite
und dass er dort auf angemessene Art und Weise
auf den segensreichen Augenblick und den schönen Moment warte,
wenn er erfährt, wer sein Vater ist.‹
Auf diese Weise warb der König Priamus,
dass ihm Venus den Paris

Donnerstag, 23. Juli 2015

3291-3300

erzeiget und bewæret.
ir hânt hie goffenbæret,
daz er von adele sî geborn
und daz sîn vater ûz erkorn
trag eines rîches crône:
des lâzent mich in schône
enthalten und als im gezeme,
biz der juncherre wol verneme,
wer sîn hôher vater sî.
er ist sîn ledic unde vrî

gezeigt und bewiesen hat.
Ihr habt hier verraten und aufgedeckt,
dass er von adeliger Herkunft ist
und dass sein edler Vater
die Krone eines Reiches trägt.
Darum lasst mich ihn gut
umsorgen und zwar so wie es ihm gebührt,
bis der junge Herr genau erfährt,
wer sein vornehmer Vater ist.
Ihm gegenüber wurde er frei und ungebunden,

[Ich übersetze »goffenbæret« mit »verraten und aufgedeckt«, weil mir das Neuhochdeutsche »offenbaren« zu stark theologisch konnotiert zu sein scheint.]

Mittwoch, 22. Juli 2015

3281-3290

mit mir ze hûse kêre.
ich wil im guot und êre
zuo schîben, al die wîle ich lebe.
ist, daz mir an im iuwer gebe
daz heil und daz gelücke birt,
daz er mîn ingesinde wirt,
ich schaffe, sælic vrouwe mîn,
daz mir der werde vater sîn
der êren danket und der tugent,
die mîn genâde an sîner jugent

mit mir nach Hause kommt.
Ich will ihn mit Besitz und Ansehen
versorgen, so lange ich lebe.
Wenn mir eure Gabe in seiner Person
das Heil und das Glück hervorbringt,
dass er Teil meiner Gefolgschaft wird,
dann wird es mir, gesegnete Dame, gelingen,
dass mir sein verehrter Vater
für das Ansehen und die Tüchtigkeit dankt,
die meine Gnade an seiner Jugend

Dienstag, 21. Juli 2015

3271-3280

daz Pârîs mit mir hinnen var
und er in mîner hoveschar
der beste heizen müeze.
ich meine, daz der süeze
mîn ingesinde werde
und ich in ûf der erde
bringe ûf wirde manicvalt.
sît ir sîn, frouwe, hânt gewalt
und er vollendet iuwer ger,
sô gebietent im, daz er

damit Paris mit mir aufbricht
und in meiner Gefolgschaft
als der Beste angesehen werde.
Ich möchte, dass der Süße
Teil meiner Dienerschaft wird
und ich ihn hier auf Erden
zu reichem Ansehen führen.
Da ihr, Herrin, über ihn herrscht
und er euren Willen ausführt,
so weist ihn an, dass er

Montag, 20. Juli 2015

3261-3270

was gewaltic über in
und daz er leben unde sin
an ir genâde ergeben hete.
dâ von der künic dô mit bete
kam die minneclichen an.
er sprach als ein bescheiden man
mit zühten wider si zehant:
›genâde, vrouwe, sint gemant,
daz an iu wirde und êre lît
und helfent mir bî dirre zît,

über ihn herrschte
und dass er sein Leben und seine Überzeugungen
ihrer Gnade überlassen hatte.
Deshalb wandte sich dann der König
mit seiner Bitte an die Liebenswerte.
Er sagte sogleich höflich zu ihr,
wie es sich für einen bescheidenen Menschen gehört:
›Verzeiht, Herrin, und denkt daran,
dass euch Würde und Ansehen auszeichnen
und helft mir hier und jetzt,

Freitag, 10. Juli 2015

3251-3260

in sînes hoves palas.
dur daz er alsô zühtic was
und alsô rehte wunneclich,
sô vleiz er des vil harte sich,
daz er in dannen bræhte.
man seit, daz er gedæhte
vil dicke in sînem muote,
wie der vil hübsche guote
sîn ingesinde würde alsus.
nû sach er, daz vrô Vênus

in dem Palast an seinem Hof,
weil er so höflich und sittsam war
und so ganz anmutig,
deshalb bemühte er sich ganz ungemein darum,
ihn von dort wegzubringen.
Man sagt, dass er ziemlich oft
gedankenverloren darüber nachdachte,
wie der überaus Schöne und Gute
Teil seiner Gefolgschaft werden könnte.
Nun sah er, dass Frau Venus

[Ich übersetze »palas« bewusst mit »Palast«, weil das Wort »Palas« heutzutage ein Spezialbegriff ist, der sich für eine Übersetzung nicht eignet. »zühtic« gebe ich mit »höflich und sittsam« wieder; »in sînem muote« versuche ich mit »gedankenverloren« zu fassen zu bekommen.]

Donnerstag, 9. Juli 2015

3241-3250

begund er kapfen dar ûf in
und kêrte muot, herz unde sin
dar ûf in manger hande wîs,
daz der getriuwe Pârîs
sîn ingesinde würde.
in dûhte ein swære bürde,
ob er sîn âne solte sîn.
er wart in sînes herzen schrîn
alsô besigelt und begraben,
daz er in gerne wolte haben

fing er an, ihn anzustarren
und richtete sein Gemüt, sein Herz und sein Denken
in vielfältiger Weise darauf,
den treuen Paris
zu einem Teil seiner Gefolgschaft zu machen.
Es hatte den Eindruck, dass es eine schwere Last wäre,
wenn er auf ihn verzichten müsste.
Er wurde in der Truhe seines Herzens
so besiegelt und begraben,
dass er ihn gerne haben wollte

[Ich übersetze »ingesinde« mit »Gefolgschaft«, weil mir z.B. »Dienerschaft« zu abwertend klingt. Gibt es (gute) Alternativen zu »besiegelt und begraben«? Vielleicht ginge »niedergelegt« statt »begraben«?]

Mittwoch, 8. Juli 2015

3231-3240

mit rede und mit gebâre.
dô Vênus, diu vil clâre,
verjach von im der wünne,
daz er von adels künne
wære und eines künges barn,
dô wolte er ahten unde warn
des jungelinges deste baz.
sîn herze sîn dô nie vergaz,
noch kam von im sîn ouge niht.
mit vlîzeclicher angesiht

mit Worten und durch seine Handlungen und Gesten.
Da Venus, die ungemein Schöne,
über ihn erfreulicherweise zu berichten wusste,
dass er aus adeliger Familie
sei und der Sohn eines Königs,
da wollte er auf den jungen Mann
umso mehr achtgeben und ihn beachten.
Weder vergaß ihn dort je sein Herz
noch ließ er seine Augen von ihm.
Mit eifriger Betrachtung

[Den Bedeutungsbereich von »gebâre« versuche ich mit »Handlungen und Gesten« zu umfassen. Mit der Übersetzung »erfreulicherweise« für ›im der wünne verjehen‹ bin ich nicht ganz glücklich, weil mir »erfreulicherweise« zu schwach zu sein scheint.]

Dienstag, 7. Juli 2015

3221-3230

ûf Pârîsen deste mê.
ez was sîn sun von rehter ê,
des truoc in diu natûre dar
ûf den juncherren wunnevar
und spilt im allez tougen
engegen durch diu ougen.
Im seite sîn gemüete,
daz an in beiden blüete
der wâren sippeschefte fruht.
des bôt er im êr unde zuht

auf Paris fixiert.
Es war sein Sohn, aus rechtmäßiger Ehe,
deshalb zog ihn die Natur dorthin
zu dem liebreizenden jungen Mann und Herrn
und alles leuchtet ihm heimlich
durch die Augen entgegen.
Sein Gefühl sagte ihm,
dass an ihnen beiden
die Frucht wahrer Verwandtschaft und Abstammung blühte.
Deshalb ließ er ihm Ansehen zukommen und erzeigte er ihm höfisches Verhalten

[»juncherre« übersetze ich hier mit »Mann und Herr«, um den ständischen Aspekt hervorzuheben. Ob man das konsequent tun sollte? Es würde dann aber wohl etwas ungelenk wirken.]

Montag, 6. Juli 2015

3211-3220

gar inneclîche friuntschaft,
wan sippebluot daz hât die kraft,
daz ez vil kûme sich verhilt.
ez lachet mâgen unde spilt
engegen durch der ougen türe
und machet iemer sich her füre,
swâ friunt gesitzet friunde bî.
swie tiefe ez dâ verborgen sî,
ez wirt ze liehte schiere brâht:
dâ von der künic was verdâht

in ganz inniger Verwandtenfreundschaft zugetan,
denn das Blut der Abstammung, das hat die Kraft,
sich nur mit Mühe zu verbergen.
Es blickt die Verwandtenschar freundlich an und leuchtet
zu ihnen durch die Tür der Augen
und kommt stets zum Vorschein,
wo auch immer ein Verwandter bei einem Verwandten sitzt.
Wie tief auch immer es dort verborgen sei,
es wird sogleich ans Licht gebracht:
Dadurch war der König umso mehr

[Litotische Formulierungen wie »vil kûme« sind notorisch schwierig zu übersetzen.]

Freitag, 3. Juli 2015

3201-3210

wart sîn gemüete wider in.
sîn herze truoc in allez hin,
dâ der hôchgeborne saz.
in lêrte diu natûre daz
und der sippeschefte reht,
daz im der junge süeze kneht
wart übermæzeclichen trût.
swie Prîamus niht über lût
erkande, daz er was sîn kint,
doch truoc er im ân underbint

war sein Haltung ihm gegenüber.
Sein Herz zog ihn ganz dort hin,
wo der Hochgeborne saß.
Ihn lehrten das die Natur
und die Forderungen der Verwandtschaft und der Abstammung,
dass ihm der junge, reizende Knabe
über alle Maßen hinaus lieb und vertraut war.
Auch wenn Priamus nicht klar und deutlich
erkannte, dass es sein Kind war,
war er ihm doch uneingeschränkt

[Da ich »sippeschefte« nicht mit dem (heute wohl eher negativ konnotierten) »Sippschaft« übersetzen möchte, versuche ich den Bedeutungsbereich mit »Verwandtschaft und Abstammung« zu bezeichnen. Auch bei »trût« entscheide ich mich für eine Übersetzung mit zwei Begriffen.]

Donnerstag, 2. Juli 2015

3191-3200

über al des hoves rinc.
›seht‹, sprâchen si, ›der jungelinc
der wirt ein wunder z'einem man‹.
hier under sach in allez an
sîn vater, künic Prîamus.
daz in diu vrouwe Vênus
sô vil gerüemet hæte,
dâ von was im der stæte
mit herzeclichen triuwen holt.
gereinet als ein lûter golt

überall im Kreis des Hofes.
›Seht‹, sagten sie, ›der Jüngling,
der wird ein Wunder von einem Mann‹.
Dabei betrachte ihn sein Vater,
König Priamus, aufmerksam.
Weil ihn die Dame Venus
so sehr gerühmt hatte,
deshalb war ihm der Standhafte
mit von Herzen kommender Treue zugetan.
Gesäubert wie ein geläutertes Gold

Mittwoch, 1. Juli 2015

3181-3190

muoz den hort besitzen
von rîchtuom und von witzen.‹
Mit disen worten und alsô
wart Pallas unde Jûnô
gestillet und gesweiget.
genidert und geneiget
was ir hôchgemüete gar.
Pârîs wart von der göte schar
geprîset und gehêret.
sîn lop daz wart gemêret

einen Schatz besitzen wird an
Reichtum und Weisheit.‹
Mit diesen Worten und auf diese Weise
wurden Pallas und Juno
ruhiggestellt und zum Schweigen gebracht.
Ganz geschmälert und gegknickt
war ihr Hochgefühl.
Paris wurde von der Götterschar
gepriesen und gerühmt.
Seine Anerkennung wurde erhöht