Freitag, 29. Januar 2016

4411-4420

und sint der worte hie gemant,
daz Helenâ von Kriechenlant
mir von iu gelobet sî.
lânt mich ir süezen minne vrî
niht werden, sælic vrouwe guot!
ich hân geleit in mînen muot
ir schœne, ir adel und ir tugent
und hœre sagen von ir jugent
sô rîcher sælden wunder,
daz ich durch si besunder

und lasst euch an die Worte erinnern,
dass Helena von Griechenland
mir von euch versprochen ist.
Lasst mich – gesegnete, edle Dame –
nicht ohne ihre süße Minne sein!
Ich habe ihre Schönheit, ihr edles Herkommen
und ihre Tugend mir in den Sinn gesetzt
und ich höre Erzählungen von so großer,
wunderbarer Vollkommenheit ihrer Jugend,
dass ich wegen ihr allein

Donnerstag, 28. Januar 2016

4401-4410

›sît iuwer krefteclich gewalt
ist alsô rehte manicvalt,
daz ir den hôhen allen obt,
sô tuont, daz ir mir hânt gelobt,
swenn ez mit fuoge wol geschehe,
sô daz ich iuwer helfe sehe
und ich bestê von iu gemeit;
ir hânt mich brâht in werdekeit,
daz ich verschulden iemer sol.
nû tuont mir noch ze frumen wol

›da eure gewaltige Macht
so ganz vielfältig ist,
dass ihr die Hochgestellten überragt,
so tut das, was ihr mir versprochen habt,
wenn es denn mit Anstand geschehn kann,
so dass ich eure Hilfe sehe
und ich sie freudig von euch erhalte.
Ihr habt mir zu Ansehen verholfen
und dafür stehe ich ewig in eurer Schuld.
Leistet mir nun auch weiter Unterstützung

[»bestân« in Vers 4407 ist schwierig; die Bedeutungen sind divers, wie man im neuen Mittelhochdeutschen Wörterbuch gut sehen kann; »etwas erwerben/erhalten« scheint mir plausibel zu sein – ganz überzeugt bin ich aber nicht; andere Lösungen sind möglich.]

Mittwoch, 27. Januar 2016

4391-4400

dar în versigelt alzehant;
daz schuof der süezen minne bant
und diu götinne Vênus,
von der sîn herze wart alsus
gebunden und gevangen.
er kam vür si gegangen,
dâ si tougenlichen saz,
und kniete vür si, wizzent daz;
er was ir angesihte vrô.
›genâde, frouwe,‹ sprach er dô,

tief und fest versiegelt.
Das bewerkstelligten das Band der süßen Minne
und die Göttin Venus,
durch die sein Herz sogleich
gebunden und gefangen war.
Er ging zu ihr und trat vor sie,
dort, wo sie unauffällig saß,
und fiel – merkt euch das – vor ihr auf die Knie.
Über ihren Anblick war er froh.
›Gnade, Dame‹, sagte er dann,

Dienstag, 26. Januar 2016

4381-4390

Si wart ûz sînem muote brâht.
er hæte ungerne dô gedâht,
daz er geschriben hæte,
wie daz wazzer dræte
ze berge loufen solte,
swenn er si lâzen wolte
und scheiden von ir minne.
si wart ûz sînem sinne
gestôzen bî der stunde
und Helenâ ze grunde

Sie wurde ihm aus dem Sinn gerückt.
Ungern hätte er zu diesem Zeitpunkt
daran gedacht, dass er geschrieben hatte,
dass das Wasser geschwind
den Berg hinauf fließen müsse,
wenn er sie jemals alleinlassen
und von ihrer Liebe sich trennen sollte.
Sie wurde zu dieser Zeit
ihm aus dem Sinn gerissen
und Helena wurde darin sogleich

Montag, 25. Januar 2016

4371-4380

gedenke vil ze herzen.
sîn fröude wart mit smerzen
getempert und gemischet.
versêret und erfrischet
wâren sîne sinne
sô gar mit niuwer minne,
daz er der alten niht enphant;
wan er vergaz dô sâ zehant,
daz im diu clâre Œnônê
was liep vor allen wîben ê.

viele Überlegungen in seinem Herzen.
Seine Freude wurde mit Schmerzen
gemischt und vermengt.
Seine Sinne waren
mit neuer Liebe so ganz
verletzt und erfrischt,
dass er von der alten nichts spürte,
denn er vergaß dort sogleich,
dass ihm die schöne Egenoe
zuvor die liebste von allen Frauen war.

Freitag, 22. Januar 2016

4361-4370

wart sîn herze hôchgemuot;
wan daz der süezen minne gluot
geströuwet was dar under.
ir heizen fiures zunder
het im alsô den sin enbrant,
daz er begunde sâ zehant
nâch wîbes lône siechen.
daz Helenâ von Kriechen
geheizen im ze wîbe was,
weizgot, des nam er unde las

geriet sein Herz in Hochstimmung;
wenn auch die Glut der süßen Minne
darin hineingemischt war.
Ihre heißen Feuerflammen
hatten ihm derart den Geist enzündet,
dass er da sogleich begann,
sich zu verzehren nach derjenigen Belohnung, die Frauen geben.
Dass Helena aus Griechenland
ihm zur Frau versprochen war,
weißgott, das nahm er an und er sammelte

[Memo an mich: Darüber nachdenken, »minne« konsequent mit »Liebe« zu übersetzen.]

Donnerstag, 21. Januar 2016

4351-4360

und daz gelücke stæte,
daz er vernomen hæte,
daz er von adele was geborn;
daz dritte dinc vil ûz erkorn,
des er vröuwen mohte sich,
daz was diu sælde lobelich,
daz Helenâ von Kriechenlant
was geheizen sîner hant
ze lône und z'einer stiure.
der drîer âventiure

und das immerwährende Glück,
dass er erfahren hatte,
dass er von adliger Herkunft sei;
Und die dritte, ausgezeichnete Sache,
über die er sich freuen konnte,
dass war der rühmliche Glücksfall,
dass Helena aus Griechenland
ihm versprochen worden war
als Lohn und Gabe.
Wegen dieser drei Erlebnisse,

Mittwoch, 20. Januar 2016

4341-4350

daz im zuo vliezen wolte;
daz er sich vröuwen solte,
daz was vil harte mügelich.
er vröute drîer dinge sich
von wâren schulden sêre:
daz eine was diu êre,
daz durch in zwêne künige striten
und umb in ze kampfe riten
ûf der liehten heide breit;
daz ander was diu werdekeit

das ihm zuströmen werde;
dass er froh zu sein habe,
das war auf jeden Fall recht und billig.
Aus drei Gründen hatte er
allen Grund, sehr froh zu sein:
Da war erstens das Ansehen,
weil zwei Könige wegen ihm kämpften
und wegen ihm auf die helle, breite Wiese
in den Zweikampf zogen;
Da war zweitens die Würde

Dienstag, 19. Januar 2016

4331-4340

von mîner küniclicher hant.
ich hân mîn herze an dich gewant
und alle mîne zuoversiht.‹
hie mite enphienc in sîne pfliht
Pârîsen künic Prîamus.
des vröute sich vrô Vênus
und al ir massenîe.
Pârîs, der wandels vrîe,
begunde ouch hœhen sînen muot
dur daz manicvalte guot,

durch meine königliche Hand.
Ich habe mein Herz Dir zugewandt
und meine ganze Zuversicht.‹
Damit nahm König Priamus
Paris in seinen Dienst.
Darüber freute sich Frau Venus
und ihre ganze Gefolgschaft.
Paris, der Tadellose,
begann auch damit, seinen Sinn auf Höheres
zu richten, aufgrund all der Vielfalt des Guten, 

Montag, 18. Januar 2016

4321-4330

genomen hete ein ende.
Pârîsen bî der hende
nam Prîamus, der künic wîs.
er sprach: ›geselle Pârîs,
ich sol dir wirde gunnen.
sît ich dich hân gewunnen
und dû mîn ingesinde bist,
weizgot, sô wil ich alle vrist
erhœhen dich ûf erden.
dû solt getiuret werden

war zuende gegangen.
Priamus, der weise König,
nahm Paris bei den Händen.
Er sagte: ›Paris, mein Freund, ich werde
dafür sorgen, dass du ein würdiges Leben haben wirst.
Weil ich dich bekommen habe
und du nun zu meiner Gefolgschaft gehörst,
weißgott, so will ich dich
hier auf Erden stets auszeichnen.
Du sollst an Geltung und Wert zunehmen

[Ich versuche, die »wirde« etwas anschaulicher zu übersetzen als nur mit »Würde«. Über das »tiuren« habe ich länger nachgedacht; das Grimmsche Wörterbuch verweist bei »theuer« u.a. auf »viel geltend« – deshalb habe ich die »Geltung« übersetzt und den »Wert« noch hinzugenommen, um mich nicht zu weit vom mittelhochdeutschen Wort zu entfernen; »Wert« alleine wäre m.E. missverständlich.]

Freitag, 15. Januar 2016

4311-4320

die sazen trûric beide;
wan in geschach vil leide,
dô niht erfüllet wart ir ger.
des hoves wirt, her Jûpiter,
viel in grimmeclichen zorn,
dur daz die sigenuft verlorn
hete sîner tohter man.
Hector dô lobes vil gewan
und hôher êre bî der zît.
der bitter und der grimme strît

die blieben beide trauernd sitzen,
denn sie hatten darunter zu leiden,
dass ihr Begehren enttäuscht worden war.
Der Gastgeber des Hofes, Herr Jupiter,
geriet in schrecklichen Zorn,
weil der Ehemann seiner Tochter
den Sieg eingebüßt hatte.
Hector heimste dort und zu dieser Zeit
viel Lob ein und großes Ansehen.
Der bittere und schreckliche Kampf

Donnerstag, 14. Januar 2016

4301-4310

daz ich getuon niht anders mac.
ir hânt erworben den bejac,
daz ich verlust von iu hie nime.‹
sus bôt er sînen vinger ime
und ergap sich im alsus.
des vröute sich vrô Vênus
und Ecubâ, sîn muoter,
ouch wart sîn vater guoter
von sîner sigenüfte vrô.
vrô Pallas und vrô Jûnô,

dass ich nichts anderes tun kann.
Euch ging der Fang ins Netz,
dass ich hier von euch die Niederlage empfange.‹
Da reichte er ihm seine Hand
und auf diese Weise ergab er sich ihm.
Darüber freuten sich Frau Venus
und Ecuba, seine Mutter,
auch war sein guter Vater
fröhlich wegen seines Sieges.
Frau Pallas und Frau Juno,

Mittwoch, 13. Januar 2016

4291-4300

durch iuch allen mînen zorn.
daz leben müeste er hân verlorn
ân iuwer bete minneclich.
nû dar! well er generen sich,
sô biete ûf sînen vinger.
sîn trûren wirt vil ringer,
lât er mir disen prîs geschehen.‹
›ich muoz iu sigenüfte jehen,‹
sprach Pêleus dô sâ zehant,
›ez ist nû leider sô gewant,

um euretwillen meinen Zorn sein lassen.
Das Leben hätte er verlieren müssen,
ohne eure liebevolle Bitte.
Auf jetzt! Will er sein Leben behalten,
so reiche er mir seine Hand.
Seine Traurigkeit wird sich verringern,
wenn er mir diese Ehre zuteil werden lässt.‹
›Ich muss euch den Sieg zugestehen‹,
sagte daraufhin Peleus sofort,
›es verhält sich nun leider so,

[Kann ich den »vinger« durch die Hand ersetzen? Verstehe ich das überhaupt richtig, dass es darum geht, einen Finger zu reichen?]

Dienstag, 12. Januar 2016

4281-4290

und lâzent im den lebetagen.
nû sî, daz er dâ lige erslagen,
waz hânt ir denne deste mêr?‹
Hector, der hôhe kempfe hêr,
gap in der rede antwürte alsô:
›ir vrouwen alle,‹ sprach er dô,
›ob mir dis êre hie geschiht,
daz er mir sicherheite giht
und ich Pârîsen hie behabe,
sô wil ich gerne lâzen abe

und lasst ihm sein Leben.
Einmal angenommen, er würde erschlagen dort liegen,
Was habt ihr dann dadurch gewonnen?‹
Hector, der große, vornehme Kämpfer,
unterbrach die Rede mit folgender Antwort:
›ihr Damen, alle,‹, sagte er da,
›wenn mir hier der Respekt zuteil wird,
dass er mir Gehorsam verspricht
und ich Paris hier behalte,
so will ich gerne 

Montag, 11. Januar 2016

4271-4280

von clâren wîben ûz erwelt:
›neinâ, tugentrîcher helt,
lânt den briutegoum genesen!
der sic muoz iemer iuwer wesen,
dâ mite hânt ir êren gnuoc.
waz hülfe, ob er sîn leben cluoc
und sînen jungen lîp verlüre!
dur daz man iuwer tugent spüre
und iuwer hôhen edelkeit,
sô nement sîne sicherheit

schöne, ausgezeichnete Frauen:
›Nein, tugendhafter Held,
lasst den Bräutigam am Leben!
Der Sieg wird ewig euch gehören –
damit habt ihr Ansehen genug.
Was brächte es, wenn er sein zartes Leben
und seinen jungen Körper verlieren würde!?
Damit man eure Vollkommenheit sehe
und eure hohe Herkunft,
so lasst ihn euch Gehorsam geloben

Freitag, 8. Januar 2016

4261-4270

erwante sînen grimmen zorn,
sô hæte Pêleus verlorn
sîn leben sunder lougen.
dô mit ir liehten ougen
die frouwen daz gesâhen,
daz im begunde nâhen
der angestbære smerze,
daz man im abe daz herze
wolte hân gestochen,
dô wart zehant gesprochen

von seinem wilden Zorn abgebracht,
dann hätte Peleus – ganz
im Ernst – sein Leben verloren.
Als die Damen das mit ihren
strahlenden Augen gesehen hatten,
dass sich im das angstvolle Leid
zu nähern begann,
dass man ihm hinein in
das Herz stechen wollte,
da sagten sogleich

Donnerstag, 7. Januar 2016

4251-4260

daz er im ûf den halsperc huop
und er nâch sîme schaden gruop
mit kreften und mit sinnen.
wand er sîn niht gewinnen
mohte durch die ringe dâ,
sô las er im ze berge sâ
diu wâpencleider stehelîn
und wolt in mit dem mezzer sîn
hân gestochen durch den lîp.
wan daz vil manic edel wîp

auf seinen Ringkragen einzuhauen
und einzubohren, mit Gewalt und Verstand,
um ihm zu schaden.
Weil er ihn da nicht
durch die Ringe besiegen konnte,
deshalb schob er ihm die
stählernen Wappenkleider hinauf
und wollte ihm sein Messer
in den Leib stechen.
Hätte ihn nicht eine Reihe von edlen Frauen

[Zu »ze berge lesen« gibt es im Lexer (unter »lesen«) einen eigenen Eintrag mit dieser Textstelle als Beispiel.]

Mittwoch, 6. Januar 2016

4241-4250

dô viel ûf in der kempfe balt.
er lac im obe mit gewalt
und vrevelichen ûf dem plân.
der val het im sô wê getân,
daz sîn wer wart cleine.
Hector der kempfe reine
der zuhte von der sîten
ein mezzer bî den zîten,
daz spitzic unde herte schein.
mit zorne kam er über ein,

da ließ sich der mutige Kämpfer auf ihn fallen.
Übermächtig und unerbittlich lag er
auf dem Kampfplatz über ihm.
Der Sturz hatte ihm solche Schmerzen
bereitet, dass seine Gegenwehr schwächer wurde.
Hector, der makellose Kämpfer,
der zückte von der Hüfte
sogleich ein Messer,
das spitzig und hart aussah.
Zornig entschloss er sich,  

Dienstag, 5. Januar 2016

4231-4240

daz Pêleus dâ nider sleif:
wan in Hector alsô begreif,
daz er in zuo der brust getwanc.
er huop in ûf hôh unde swanc
den frumen und den werden
sô swinde zuo der erden,
daz im der lîp erkrachete
und er an kreften swachete.
Er warf in ûf daz grüene gras.
und als er nider komen was,

dass dann Peleus niedersank,
weil in Hector so packte,
dass er ihm die Brust zusammenpresste.
Er hob ihn weit in die Höhe und mit
Schwung warf er den angesehenen und tüchtigen
so heftig zu Boden, 
dass seine Glieder laut krachten
und ihn seine Kräfte verließen.
Er warf ihn auf das grüne Gras –
und als er aufgekommen war,

[»laut krachen« für »erkrachen« macht mich nicht so ganz glücklich.]

Montag, 4. Januar 2016

4221-4230

sam die wilden ebere tuont:
wan ez in umb daz leben stuont
und umb ir küniclichen prîs.
daz dâ gewunnen Pârîs
würde von ir eines hant,
dar ûf sô wart ir muot gewant
und ir ellentrîcher sin.
si rungen strîtecliche umb in
und triben des vil unde gnuoc,
unz sich der strît dar ûf getruoc,

wie es die wilden Eber tun,
weil es um ihr Leben ging
und um ihr königliches Ansehen.
Dass Paris da durch die
Hand eines von beiden gewonnen werde,
darauf hatten sie ihr Wollen gerichtet
und ihre tapfere Gesinnung.
Sie kämpften hitzig um ihn
und sie taten das reichlich und hinlänglich,
bis der Kampf dazu führte,