Donnerstag, 24. März 2016

4791-4800

gestrichen in Tessaliam
und als er durch in dar bekam,
dô was der hof zergangen
und hete in niht vervangen,
daz er nâch im dar was bekomen,
doch hete er dô von im vernomen,
daz in der künic Prîamus
mit im gefüeret hete alsus
und daz er was ze Troye dô.
der dinge was sîn herze vrô;

nach Tessalia gelaufen
und als er wegen ihm dort hingekommen war,
da hatte sich der Hof zerstreut
und es hatte ihm nichts genützt,
dass er wegen ihm dorthin gelangt war,
doch hatte er dort über ihn gehört,
dass ihn der König Priamus
gerade mit sich genommen habe
und dass er nun in Troja sei.
Über diese Sache freute er sich von Herzen,

Mittwoch, 23. März 2016

4781-4790

daz Pârîs dâ ze hove was,
dâ von er hôchgemüete las
vil tiefe in sînes herzen grunt.
er was an vröuden ungesunt
gewesen dur daz swære dinc,
daz er den süezen jungelinc
wânde ê mâles hân verlorn.
den kneht von hôher art geborn
het er gesuochet iemer sît.
er was nâch im zer hôchgezît

dass Paris dort am Hof war,
wodurch der würdevolle Mann, tief in seinem Herzen,
viel sammelte, was geheimnisvoll und unergründlich war. 
Seine Freude war krank geworden
durch diese beschwerliche Sache,
dass er den süßen jungen Mann
zuvor glaubte verloren zu haben.
Den von hohem Adel gebornen Knaben
hatte er seitdem beharrlich gesucht.
Er war, ihn zu suchen, zum Fest

[Das Grimm’sche Wörterbuch gibt für »Tiefe« u.a. (mit einem Beleg bei Otfrid von Weißenburg) an: »[…] was nicht offen liegt, verborgen oder geheim, schwer oder nicht zu ergründen, zu erforschen ist […]«.]

Dienstag, 22. März 2016

4771-4780

die man dâ hiez Oenônê,
gedenken mohte dô niht mê.
Nû daz er in der nœte ranc,
daz an der minne sîn gedanc
lac und al sîn zuoversiht,
dô kam ez alsô von geschiht,
daz der hirte stæte,
der in erzogen hæte,
was in die stat ze Troye komen;
wan der hete dô vernomen,

die man dort Oenone nannte,
nun nicht mehr denken konnte.
Jetzt, da er an diesem Elend litt,
dass sein Denken auf die Liebe
gerichtet war und seine ganze Hoffnung,
da passierte es, wie der Zufall so will,
dass der stets tugendhafte Hirte,
der ihn erzogen hatte,
nach Troja in die Stadt gekommen war.
Er nämlich hatte gerade erst erfahren,

Montag, 21. März 2016

4761-4770

daz si diu schœnste wære,
die muoter ie gebære,
dâ von was er enzündet
und sô mit leide ergründet,
daz er sich ûf ir minne vleiz.
in hete enbrennet der geheiz,
den im Vênus, diu werde, tete,
sô vaste an iegelicher stete
des herzen und des lîbes,
daz er des clâren wîbes,

dass sie die Schönste sei,
die je eine Mutter zur Welt gebracht habe,
dadurch wurde er entflammt
und so völlig mit Leid durchdrungen,
dass er sich ganz auf ihre Liebe konzentrierte.
Das Versprechen, das ihm Venus, die Angesehene,
gegeben hatte, das hat ihn
so gravierend an jeder Stelle
des Herzens und Körpers entzündet   ,
dass er an die schöne Frau,

Freitag, 18. März 2016

4751-4760

crêatiure würde nie.
sîn lop daz flouc umb unde gie
vür alle man besunder.
hie mite und ouch dar under
wart er in die gedenke brâht,
daz er von grunde was verdâht
ûf Helênen minne.
muot, leben unde sinne
het er vil gar an si geleit.
daz im daz wunder was geseit,

Geschöpf gegeben habe.
Sein Ruhm verbreitete sich in Windeseile und
erreichte jeden Einzelnen.
Hierdurch und dabei
setzte sich bei ihm der Gedanke fest,
dass er sich zutiefst
nach der Liebe Helenas sehnte.    
Denken, Leben und Fühlen
hatte er ganz und gar auf sie gerichtet.
Dadurch, dass ihm von dem erstaunlichen Phänomen berichtet worden war,

[Ich habe versucht, eine anschauliche Alternative zum unspezifischen »Wunder« zu finden.]

Donnerstag, 17. März 2016

4741-4750

der künste funden werden.
swaz ieman ûf der erden
kan hübescheit erdenken,
dar zuo kund er gelenken
beidiu muot, herz unde lîp.
in lobte manic edel wîp
ze Troye durch daz werde leben,
daz im nâch wunsche was gegeben.
Die burger algemeine
die jâhen, daz sô reine

der an sein Können heranreicht.
Was auch immer jemand hier auf Erden
an Höfischkeit sich ausdenken kann,
er war in der Lage, darauf nicht nur
sein Denken zu richten, sondern auch sein Herz und seinen Körper. 
zahlreiche adelige Frauen in Troja
lobten ihn wegen des würdigen und ehrenvollen Lebens,
das ihm – so wie man es sich nur wünschen kann – geschenkt wurde.
Die Bewohner sagten einmütig,
dass es nie ein so reines

Mittwoch, 16. März 2016

4731-4740

der man ze hübescheit bedarf:
den stein den stiez er unde warf
baz danne keiner sîn genôz;
geswinde lief er unde schôz
behendeclichen zuo dem zil;
des het er in dem lande vil
gelernet und begunnen;
sîn herze was versunnen
ûf schirmen ouch sô rehte wol,
daz niemer sîn gelîche sol

derer man zur Höfischkeit bedarf:
Steine konnte er besser als
alle anderen stoßen und werfen;
er rannte schnell und schoss
mit großem Geschick auf das Ziel;
das hatte er daheim im Wald
hinlänglich gelernt und getrieben;
auch war sein Herz so vollends
darauf bedacht, Schutz zu bieten und Angriffe zu parieren,
dass niemals jemand gefunden werden kann,

[Ich gehe davon aus, dass mit dem ›Land‹ die Zeit im Wald gemeint ist. »schirmen« meint allgemein »verteidigen«, »Angriffe parieren«, »Schutz bieten«; ich versuche mit einer erweiterten Übersetzung das Bedeutungsspektrum abzudecken.]

Dienstag, 15. März 2016

4721-4730

vor wandelbæren sachen,
der kunde wol gemachen,
swer in mit ougen an gesach,
daz er im iemer guotes jach
mit herzen und mit munde.
er schuof daz z' aller stunde,
daz man im gunde guotes,
und was sô vrîes muotes,
daz in dô lopten gnuoge;
wan er kund alle fuoge,

wahrlich gereinigt war,
der war fraglos dazu in der Lage, dass,
wer auch immer ihn mit seinen Augen ansah,
dass der – mit Herz und Mund –
stets Gutes über ihn sagen müsse.
Er sorgte in jeder Minute dafür,
dass man ihm alles Gute gönnte
und er war so unbeümmert,
dass ihn dort viele lobten;
immerhin verfügte er über alle Fertigkeiten,

Montag, 14. März 2016

4711-4720

und waz er tugende was gewon;
des vröute sich dô Lâmedon.
Er sach Pârîsen gerne,
der wart ein leitesterne
der vröuden und der wunne sîn.
er gap sô liehtebæren schîn
von sînes herzen ougen,
daz er in sunder lougen
durchnehteclichen meinte.
Pârîs, der wol gereinte

und von den guten Eigenschaften, die ihn auszeichneten –
und sofort freute sich Lamedon darüber.  
Er sah Paris gern;
dieser wurde ein Leitstern
seines Vergnügens und seiner Freude.
Er versprühte derart leuchtenden Glanz
durch die Augen seines Herzens,
dass er ihn – wirklich wahr! –
mit Herz und Seele liebte.
Paris, der von Wankelmütigkeit

[»durchnehtec« laut Lexer »vollständig, vollkommen«; ich habe nach einer bildlicheren Übersetzung gesucht.]

Freitag, 11. März 2016

4701-4710

von sîner clârheit alzehant;
wan im tet Prîamus erkant,
wie der knappe stæte
den kriec gescheiden hæte
umb den apfel wunnevar.
ouch liez er in daz wizzen gar,
daz Hector mit strîte
gewan zer hôchgezîte
den ûz erwelten jungelinc.
er seite im alliu sîniu dinc

sogleich über seine strahlende Schönheit,
informierte ihn Primaus doch darüber,
wie der untadelige junge Mann
den Streit um den wunderbar anzusehenden
Apfel geschlichtet hatte.
Außerdem erzählte er ihm ausführlich,
dass Hector mit Hilfe eines Kampfes
bei dem Fest den
auserwählten jungen Mann gewann.
Er erzählte ihm von allem, was ihn betraf

Donnerstag, 10. März 2016

4691-4700

Prîamus an sîner stete,
daz er mit reinem willen tete
und ouch mit hôhem vlîze gar.
dô Pârîs kam ze hove dar
und in Lâmedôn ersach,
dô truoc er vröudenrîch gemach
von des juncherren güete.
im seite ouch sîn gemüete,
daz er im sippe wære.
des wart er wunnebære

an seiner statt in Ordnung bringen,
was er auch mit reiner Gesinnung
und mit stets großem Engagement tat.
Als dann Paris an den Hof gekommen war
und Lamedon ihn sah,
da ergriff ihn ein freudiges Wohlbehagen
wegen der Vortrefflichkeit des edlen, jungen Mannes.
Außerdem gab ihm sein innerer Sinn zu verstehen,
dass er mit ihm verwandt sei.
Deshalb wunderte er sich

Mittwoch, 9. März 2016

4681-4690

bar im dâ rîcher wirde lôn.
ouch wart sîn vater Lâmedôn
gemeit von sîner künfte sît,
der lepte dannoch bî der zît
und hete Prîamô daz lant
epholhen gar ze sîner hant;
wan er was von alter grîs
und möhte niht in alle wîs
des rîches dinc verslihten;
dâ von muost ez verrihten

verschaffte ihm dort die Vorteile eines hohen Ansehens.
Zudem freute sich sein Vater Lamedon
von da an über seine Ankunft;
der lebte damals noch, zu dieser Zeit,
und hatte das Land
ganz in die Hand des Priamus gelegt;
er war nämlich wegen des Alters grau
und war nicht in der Lage, in jeder Hinsicht
die Angelegenheiten des Reiches zu regeln;
deshalb musste Priamus die Angelegenheiten

Dienstag, 8. März 2016

4671-4680

der alle untugent ie verswuor,
ze Troye mit Pârîse fuor,
der sîner ougen spiegel was.
er nam in an sich unde las
z' eim ingesinde stæte
und schuof im rîch geræte
mit süezer handelunge.
der hôchgeborne junge
beleip aldâ ze hove sus.
der werde künic Prîamus

der allem Laster abgeschworen hatte,
ging nach Troja mit Paris,
der seinen Augen ein Spiegel war.
Er nahm ihn zu sich und fest in
seiner Gefolgschaft auf
und rüstete ihn prächtig aus
mit herzlicher Gast- und Geselligkeit.
Der hochgeborne junge Mann
blieb auf diese Weise dort am Hof.
Der ruhmreiche König Priamus

[»handelunge« ist laut BMZ »behandlung, besonders die aufnahme welche der gast findet«.]

Montag, 7. März 2016

4661-4670

beidiu trûren unde sêr.
waz touc hie lange rede mêr!
si wart des nahtes swanger
und werte dô niht langer
diu wunneclîche hôchgezît;
si nam ein snellez ende sît
mit vröuden und mit êren.
die geste dannen kêren
begunden wider heim ze lant.
der künic Prîamus genant,

sowohl die Trauer als auch den Schmerz sein.
Was soll man da noch viel mehr sagen!
Sie wurde in der Nacht schwanger
und das herrliche Fest
dauerte dann nicht länger;
es ging danach schnell zuende,
ehrenvoll und heiter.
Die Gäste begannen, sich von dort
heim in ihre Länder aufzumachen.
Der König namens Priamus

Freitag, 4. März 2016

4651-4660

sîn leben wunnebære.
swie wîse Thêtis wære
an herzen und an muote,
doch half niht al ir huote,
der jungelinc der würde erslagen,
den si ze naht begunde tragen.
Doch wolte si des wænen,
si möhte in wol entænen
der veigen misselinge.
si liez ûf guot gedinge

sein herrliches Leben verlor.
Wie lebensklug Thetis in
ihrem Denken und Fühlen auch war –
dennoch half ihre ganze Fürsorge nichts;
der junge Mann, den sie in dieser Nacht anfing zu tragen,
würde trotzdem erschlagen werden.
Doch wollte sie daran glauben,
dass sie gewiss in der Lage wäre, ihn dem
todbringenden Unglück zu entziehen.
Weil sie guter Dinge war, ließ sie

Donnerstag, 3. März 2016

4641-4650

die Prôtheus der wîssage
entslozzen hete bîme tage
den liuten algemeine.
Thêtis, diu frouwe reine,
des nahtes einen sun enphie,
der manic wunder sît begie
mit ellentrîcher hende
und doch ein bitter ende
ze Troye muoste kiesen.
man sach in dâ verliesen

die Proetheus, der Weissager,
an diesem Tag allen Leuten
enthüllt hatte.
Thetis, die herrliche Dame,
empfieng in der Nacht einen Sohn,
der später viele herausragende Dinge tat
mit tapferen Händen
und der doch in Troja
ein bitteres Ende nahm.
Man konnte sehen, wie er dort

Mittwoch, 2. März 2016

4631-4640

vor schedelicher swære;
des wart si vröudenbære
von dirre wîssagunge,
die des prophêten zunge
von ir gebürte seite.
dô si ze naht geleite
zuo dem briutegoume sich,
dô wart diu vrouwe minneclich
behaft mit einem kinde clâr
und wart diu prophêtîe wâr,

vor zerstörerischem Leid zu schützen.
Deshalb machte sie
diese Weissagung glücklich,
die die Zunge des Propheten
von ihrer Geburt mitgeteilt hatte.
Als sie sich nachts zu
ihrem Bräutigam schlafen legte,
da wurde die reizenden Dame
mit einem schönes Kind versehen –
und die Prophezeiung bewahrheitete sich,

[Über das »beheften« mit einem Kind habe ich länger nachgedacht; »versehen« ist vermutlich zu schwach; aber ein wirklich passendes nhd. Wort habe ich nicht gefunden.]

Dienstag, 1. März 2016

4621-4630

begunde sich diu werde brût.
si vröute sich des über lût,
daz von ir lîbe solte komen
ein jungelinc als ûz genomen,
daz er niht tiurre mohte wesen.
si dâhte, daz er wol genesen
vor den von Troye solte.
gelouben si des wolte,
daz si mit ir listen
in möhte wol gevristen

sich von Kummer und Leid freizumachen.
Lauthals freute sie sich darüber,
dass von ihr ein junger Mann
herstammen werde, der derart außergewöhnlich sei,
dass er noch vortrefflicher nicht sein könnte.
Sie dachte sich, dass ihm diejenigen vor Troja
sicher nichts würden anhaben können.
Sie wollte daran glauben,
dass sie doch sicher in der Lage sei,
ihn mit ihrer Kunstfertigkeit