Donnerstag, 28. April 2016

4981-4990

vater hât hie funden?
ez wirt in kurzen stunden
an wirde nieman im gelîch,
swenn ich gesage dem künige rîch,
daz er sîn kint von adel ist.
waz im denn êren bî der vrist
erboten wirt von sîner hant!
mich hât gelücke dar gesant,
sît daz ich worden bin gewar,
daz den ein künigîn gebar

Vater hier gefunden hätte?
Bald wird niemand so viel
Wertschätzung genießen wie er,
sobald ich dem mächtigen Könige gesagt habe,
dass er sein Kind ist – sein adeliges Kind. 
Welch’ Ansehen ihm dann sogleich
von seinen Händen geschenkt wird!
Mich hat das glückliche Schicksal hierher geschickt,
weil ich erfahren habe,
dass denjenigen eine Königin geboren hatte,

[Dass der »adel« betont wird, soll woll deutlich machen, dass beide Eltern adelig sind.]

Mittwoch, 27. April 2016

4971-4980

bôt sô werdeclich gemach,
daz in sîn vater gerne sach,
der in billîche solte sehen.
er dâhte: ›sît daz ist geschehen,
daz Pârîs dâ her ist komen
und in der künic hât genomen
z’eim ingesinde ân allen haz,
wie künde im iemer deste baz
gelungen sîn ûf erden,
sô daz er sînen werden

mit einem so ehrenvollen Zuhause ausstattete,
so dass ihn sein Vater gerne sah,
denn es gehörte sich ja auch, dass er ihn sieht.
Er dachte: ›Da es so gekommen ist,
dass Paris hierher gefunden hat
und der König ihn ohne jede Feindseligkeit
in seine Gefolgschaft aufgenommen hat,
was auf dieser Welt könnte ihm jemals
besseres geschehen,
als dass er seinen ehrenwerten

Dienstag, 26. April 2016

4961-4970

und die wirtinne wizzen liez,
wie Prîamus verderben hiez
daz niuweborne kindelîn,
dô wart im an dem mære schîn
und hete ez schiere dâ gespurt,
daz Pârîs wære diu geburt,
die man verderben hiez alsô.
von grunde wart sîn herze vrô
der wunnebæren dinge,
daz man dem jungelinge

und die Wirtsfrau wissen ließ,
wie Priamus befahl, das neugeborene Kindlein
zu töten,
da wurde ihm durch die Erzählung klar
und er hatte es dabei rasch gespürt,
dass Paris der Neugeborene war,
den man auf solche Weise zu töten befohlen hatte.
Er war froh, bis auf den Grund seines Herzens,
über die herrlichen Umstände,
dass man den jungen Mann

Montag, 25. April 2016

4951-4960

vil nâhe ir zweiger bette
und, waz der wirt gerette,
daz hôrt er allez ûf ein ort.
nû der getriuwe sîniu wort
vernam biz ûf ein ende gar,
dô wart er alzehant gewar,
daz Pârîs des künges kint
wær âne zwîvels underbint
und in het Ekubâ getragen;
wan dô der wirt begunde sagen

ganz nah an dem Bett der beiden
und was der Wirt sagte,
das hörte er alles von A bis Z.
Als nun der Anständige seine Worte
bis ganz zum Ende gehört hatte,
da wurde ihm sofort bewusst,
dass Paris das Kind des Königs ist,
ganz ohne jeden Zweifel
und dass ihn Ekuba geboren hat;
denn als der Wirt zu erzählen begann

Freitag, 22. April 2016

4941-4950

dem ich dâ solte hân benomen
den lîp nâch wunsche vollekomen.‹
Sus lac er unde seite
in sîner tougenheite
der frouwen diz verholne dinc.
er wânde, ez solte ein hælinc
sîn gewesen alle stunt,
doch wart ez ûf ein ende kunt
ir beider gaste sâ zehant.
der hirte der lac bî der want

dem ich damals, wie es gewünscht war,
das Leben restlos hätte nehmen sollen.‹
Auf diese Weise lag er dort und sagte
insgeheim
der Frau diese geheimgehaltene Sache.
Er dachte, dass es für alle Zeit
ein Geheimnis hätte bleiben müssen,
doch bekam es der Gast dieser beiden
sogleich von Anfang bis Ende mit.
Der Hirte, der lag bei der Wand,

Donnerstag, 21. April 2016

4931-4940

in einen wilden œden tan.
dâ vant in ûfe dirre man,
der hînaht hie ze hûse lît,
und hât in schône erzogen sît,
als er uns beiden hînt verjach.
zehant als er diu wort gesprach,
wie Pârîs wære vunden,
dô spürt ich an den stunden,
daz er bî namen wære
daz kint vil wunnebære,

einer Tanne in einem ungenutzten Wald fernab von Menschen.
Darauf liegen fand ihn dieser Mann,
der heute Nacht hier im Haus übernachtet
und danach hat er ihn gut erzogen,
wie er uns beiden heute Nacht erzählte.
Sobald er die Worte gesagt hatte,
wie Paris gefunden worden war,
da spürte ich sofort,
dass er tatsächlich
das überaus entzückende Kind ist,

[Die Übersetzung von V. 4931 klingt etwas umständlich; ich versuche, das Gemeinte so zu übersetzen, dass es für heutige LeserInnen verständlich und einsichtig ist.]

Mittwoch, 20. April 2016

4921-4930

daz er sî mînes herren sun.
vil sælic wîp, vermeldest dun,
sô muoz ich drumbe ligen tôt;
wan der künic mir gebôt,
dô man daz kint alrêrst gebar,
daz ich den knaben wunnevar
dem argen tôde solte geben.
sich, dâ liez ich im daz leben
durch sîner sælikeite prîs.
ich leite in ûf ein dickez rîs

dass er der Sohn meines Herrn ist.
Wenn Du, glückliche Frau, ihn verrätst,
dann werde ich deswegen mein Leben verlieren,
denn der König hat mir befohlen,
als das Kind gerade erst geboren worden war,
dass ich den hübschen Knaben
dem bösen Tod übergeben müsse.
Schau, da ließ ich ihm das Leben
als ein Lob seiner Vollkommenheit.
Ich legte ihn auf einen dicken Zweig,

[Für dieses »vil sælic« muss es bessere Übersetzungen geben, als einfach nur »glücklich«…]

Dienstag, 19. April 2016

4911-4920

und ein gar wunderlichez dinc!
Pârîs, der clâre jungelinc,
mit dem diu lant geblüemet sint,
der ist ouch mînes herren kint
und sîn geburt von rehter ê.
noch weiz nieman die wârheit mê,
wan ich aleine ûf erden;
ouch sol ez von dir werden
verswigen hiute und iemer.
entsliezen soltû niemer,

und eine ziemlich seltsame Sache!
Paris, der schöne junge Mann,
mit dem sich die Länder schmücken,
der ist zudem das Kind meines Herrn
und seine Geburt entstammt einer rechtmäßigen Verbindung.
Im Moment weiß sonst niemand die Wahrheit,
sondern auf der ganzen Erde nur ich allein.
Auch musst du es für dich behalten,
jetzt und für alle Zeit.
Du darfst niemals enthüllen,

Montag, 18. April 2016

4901-4910

in vant der hirte balde
des mâles in dem walde,
dô wir von im gekêrten.
daz wir sîn niht versêrten,
daz was der göte wille.‹
hie mite sweic er stille,
biz er geleite slâfen sich.
zuo sînem wîbe wunneclich
sprach er dô lîse und al zestunt:
›vernim, ich tuon dir mære kunt

der Hirte fand ihn bald,
damals in dem Wald,
nachdem wir ihn zurückgelassen hatten.
Dass wir ihm nichts zuleide getan haben,
das war der Wille der Götter.‹
Nach diesen Worten schwieg er,
bis er sich schlafen gelegt hatte.
Zu seiner liebenswerten Frau
sagte er da leise und plötzlich: 
›Hör zu, ich erzählt dir eine Neuigkeit

Freitag, 15. April 2016

4891-4900

›Pârîs der was daz kindelîn,
daz ich und der geselle mîn
solten hân ze tode erslagen.
in hât got disem man getragen
vil harte sæleclichen zuo.
sît er im half sô rehte fruo,
daz er des tôdes ist genesen;
wer möhte Pârîs anders wesen,
wan der selbe süeze knabe?
swie sich diz dinc gefüeget habe,

›Paris, der war das kleine Kind,
dass ich und mein Begleiter
hätten totschlagen sollen.
Gott hat ihn, mit sehr großem Glück und Heil,
diesem Mann gebracht.
Da er ihm zur rechten Zeit geholfen hat,
damit er vom Tod errettet wird –
wer könnte Paris anders sein,
als dieser süße Junge?
Wie auch immer sich diese Sache zugetragen habe,

Donnerstag, 14. April 2016

4881-4890

sô kêre ich hein zuo mînem vihe,
swenn ich in morne hie gesihe
und ich mit im geredet hân.
den knaben wunneclich getân
den hân ich vil gesuochet.
nû hât ez got geruochet,
daz ich in sælic und gesunt
hie vinden sol in kurzer stunt.‹
Den wirt diz mære brâhte
dar ûf, daz er gedâhte:

so gehe ich dann zurück nach Hause, zu meinem Vieh,
sobald ich ihn morgen hier gesehen
und mit ihm geredet habe.
Den schön anzusehenden Jungen
den habe ich lang gesucht,
nun hat es Gott gefallen,
dass ich ihn hier bald
glücklich und gesund finden werde.‹
Den Gastwirt bewog diese Neuigkeit
dazu, dass er sich dachte:

Mittwoch, 13. April 2016

4871-4880

erzogen,‹ sprach der hirte z’im,
›dâ von ich sînen prîs vernim
mit willecliches herzen ger.‹
›ist er denn iuwer sun?‹ sprach er,
›daz sagent mir ân allen spot.‹
›nein herre, ich vant in, samir got,
in einem walde wilde
und hân sîn kürlich bilde
von einem cleinen kinde ernert.
sît nû sîn dinc nâch wunsche vert,

aufgezogen‹, sagte der Hirte zu ihm,
›deshalb höre ich von seinem Ansehen
mit dem Verlangen eines begierigen Herzens.‹
›Ist er denn euer Sohn?‹, sagte er,
›Ihr könnt es mir ehrlich sagen.‹
›Nein, Herr Wirt, bei Gott, ich habe ihn
gefunden, in einem menschenfernen Wald,
und habe seine anziehende Menschengestalt
genährt, seit er ein kleines Kind war.
Weil nun seine Sache nach Wunsch verläuft,

[Ich übersetze die »wilde« des Waldes mit »menschenfern«.]

Dienstag, 12. April 2016

4861-4870

doch bin ich sîner wirde geil.
mich dunket daz ein hôhez heil,
daz man im lop und êre birt.‹
der rede antwürte gap der wirt
schôn unde zühteclîche dô:
›war umbe‹, sprach er, ›sît ir vrô
durch sîniu werdeclîchiu dinc?
waz gêt iuch an der jungelinc,
daz ir im alsô günstic sît?‹
›her wirt! ich hab in lange zît

dennoch bin ich darüber glücklich, dass er wertgeschätzt wird.
Es scheint mir ein großes Glück zu sein,
dass man ihm Ansehen und Anerkennung verschafft.‹
Daraufhin antwortete der Wirt
auf diese Worte auf angenehme und anständige Art und Weise:
›Warum‹, sagte er, ›freut ihr euch
über seine ehrenvollen Verhältnisse?
Was hat es mit dem jungen Mann auf sich,
dass ihr ihm so gewogen seit?‹
›Lieber Wirt, ich habe ihn lange

Montag, 11. April 2016

4851-4860

noch sô zühtic, noch sô wîs.
er ist geheizen Pârîs
und hete an im die sælikeit,
daz der künic hât geleit
ûf in allen sînen muot
und im daz beste gerne tuot,
des er mac geflîzen sich.‹
der hirte sprach: ›des fröuwe ich mich;
wan ich gan im êren wol.
swie lützel es mich helfen sol,

und auch nicht so wohlerzogen und so scharfsinnig.
Er heißt Paris
und er sei derart vom Glück gesegnet,
dass der König all sein
Denken und Wollen auf ihn gerichtet hat
und für ihn das Beste tut,
das er zu tun vermag.‹
Der Hirte sagte: ›Darüber freue ich mich,
denn ich gönne ihm gerne Ansehen.
Wie wenig auch immer es mir helfen mag,

Samstag, 9. April 2016

4841-4850

ob dâ ze hove wære
ein knappe tugentbære,
Pârîs geheizen und genant.
›jâ,‹ sprach der wirt dô sâ zehant,
›ein jungelinc ist komen her,
der ûf tugende sîne ger
und sînen muot gestellet hât.
der hof mit im geblüemet stât
und mit der liehten clârheit sîn.
ez wart nie knabe sô rehte vîn,

ob dort am Hof
ein anständiger junger Mann sei,
mit Namen Paris geheißen.
›Ja‹, sagte da der Wirt sofort,
›ein junger Mann ist hergekommen,
der seinen Willen und sein Denken
auf Tugend gerichtet hat.
Er ist wegen seiner strahlenden Redlichkeit
eine Zierde des Hofes.
So ganz makellos war noch nie ein Knabe,

[»vîn« scheint mir nicht so ganz leicht zu übersetzen zu sein, da »fein« im Nhd. eher diffus verwendet wird. Mir scheint »makellos« das Gemeinte ganz gut zu treffen.]

Donnerstag, 7. April 2016

4831-4840

in hân verderbet in dem hage
und in der hirte an einem tage
von wilder âventiure vant,
der in dô nerte sâ zehant
und nû ze Troye nâch im streich.
verselwet unde weterbleich
was er zuo disem wirte komen
und hete in sînem hûs genomen
herberge, als ich nû verjach.
den wirt den vrâgt er unde sprach,

ihn in der Wildnis töten wollte
und ihn an diesem Tag durch
wunderbaren Zufall der Hirte fand,
der sich dann sogleich um ihn kümmerte
und ihm nun nach Troja nachwanderte.
Verdreckt und wetterblass
war er zu diesem Gastwirt gekommen
und hatte sich in seinem Haus
eine Unterkunft genommen, wie ich schon erzählt habe.
Den Wirt, zu dem sagte und den fragte er,

Mittwoch, 6. April 2016

4821-4830

ze hove, als ich vernomen hân,
und hete sich des abe getân
alsô, daz er dô geste pflac.
vür wâr ich daz gesagen mac,
er was der eine von den zwein,
die daz getruogen über ein,
daz si Pârîsen liezen leben,
dô sîn junger lîp gegeben
dem tôde werden solte;
ich meine, dô man wolte

so hat man mir gesagt, am Hof gewesen
und hatte das aufgegeben,
so dass er sich nun hier um Gäste kümmerte.
Er war – und was ich sage ist wahr! –
er war der eine von den beiden,
die darin übereinkamen,
dass sie Paris am Leben ließen,
als sein junges Leben
dem Tod anheimgegeben werden sollte;
nämlich als man

Dienstag, 5. April 2016

4811-4820

Der hirte einveltic unde guot,
nû daz er âne valschen muot
ze Troye was geslichen
und er dâ sicherlichen
Pârîsen vinden wânde
dô kam er nahtes gânde
und spâte z'einem wirte.
bî dem beleip der hirte,
wan er in tugentlîche enphie.
der wirt der was gewesen ie

Da er, der einfache und gute Hirte,
nun also ohne schlechte Gesinnung
nach Troja gewandert war
und sich sicher war,
Paris dort zu finden,
da kam er zu Fuß und
spät nachts zu einem Gastwirt.
Bei dem blieb der Hirte,
weil er ihn freundlichen und gütig aufnahm.
Der Gastwirt, der war schon immer,

Montag, 4. April 2016

4801-4810

wan er hete in vil geklaget
und was im lange nâch gejaget
mit jâmer und mit riuwe.
er truoc im reine triuwe
und einen lûterbæren sin;
dâ von kêrt er ze Troye hin
und wolte in gerne dâ gesehen
und in den hôhen êren spehen,
die mit ganzer werdekeit
der künic hete ûf in geleit.

denn er hatte wegen ihm sehr getrauert
und er hat, betrübt und bitter klagend,
lange nach ihm gesucht.
Er war ihm gegenüber voll und ganz treu
und seine Absichten waren redlich.
Darum wandte er sich nach Troja
und wollte ihn gerne dort sehen
und das hohe Ansehen erblicken,
das ihm der König mit allen Würden
verliehen hatte.