Donnerstag, 30. Juni 2016

5331-5340

durch sînen wunnebæren schîn.
ouch fröute sich diu muoter sîn
und sîne bruoder über al.
sich huop dâ vrœlich hoveschal,
dô man die wârheit hete ervarn,
daz Pârîs, der tugende barn,
was von Prîamô geborn.
durch den juncherren ûz erkorn
wart dâ vröuden vil gegert.
er was in ê liep unde wert,

durch seine strahlende Erscheinung.
Zudem freuten sich seine Mutter
und alle seine Brüder.
Da brach fröhlicher höfischer Trubel los,
als man die Wahrheit erfahren hatte,
dass Paris, dieses Kind der Vollkommenheit,
der Sohn des Priamus war.
Wegen des vortrefflichen jungen Herrn wurde dort
nach mancherlei heiterem Vergnügen verlangt.
Sie hatten ihn zuvor gern und sie schätzten ihn, 

Mittwoch, 29. Juni 2016

5321-5330

diu hovediet gemeine;
wan daz von im aleine
Prîamus beswæret was.
er nam ze herzen unde las
trüeb unde clegelîche sene.
der künic Lâmedon, sîn ene,
was ouch der mære vil gemeit,
daz von Pârîse was geseit,
er wære sînes sunes kint.
sîn trûren was vil gar ein wint

die gesamte Hofgesellschaft;
nur eben allein
Priamus war wegen ihm bekümmert.
Die Sache rührte sein Herz und er 
sammelte sich eine trübe und trauernd-klagende Sehnsucht.
Der König Lamedon, sein Vater,
war auch über die Neuigkeit froh,
dass von Paris gesagt wurde,
dass er der Sohn seines Sohnes sei.
Seine Traurigkeit war wie weggeblasen,

Dienstag, 28. Juni 2016

5311-5320

was die beswærde Prîamus,
daz der jungelinc alsus
gewahsen und erzogen was.
daz er des tôdes ie genas,
daz was sîn meiste swære dô.
dâ vor was er gesezzen vrô
dur sîn erwünschet bilde;
nû was im vröude wilde
von sîme antlitze wunneclich.
dur den juncherren fröute sich

der Schmerz klagend Ausdruck,
dass der junge Mann auf diese Weise
aufgewachsen und erzogen worden war.
Dass er es überhaupt geschafft hatte, dem Tod
zu entgehen, gerade das quälte ihn am meisten.
War er zuvor glücklich gewesen,
aufgrund seiner vollkommenen Erscheinung,
war die Freude seinem schön anzusehenden Antlitz
nun fern und fremd.
Über den jungen Herren freute sich

Montag, 27. Juni 2016

5301-5310

wan er ist von iu geborn,
daz wizzent, herre, ân allen zorn.‹
Der künic rîch von hôher art
beswæret von der rede wart
gar inneclichen sâ zehant;
wan er des troumes wart ermant,
den Ekubâ, sîn vrouwe, kôs,
dô si trüeb unde vröudelôs
wart Pârîsen tragende.
in sînem herzen clagende

denn er stammt von euch.
Das sollt ihr wissen, Herr, ohne deshalb zornig zu werden.‹
Den mächtigen, hochgebornen König
belastete diese Rede
ganz unmittelbar und er war innerlich tief bewegt,
denn er wurde an den Traum erinnert,
den Ekuba, seine Ehefrau, erkannte,
als sie bekümmert und betrübt
Paris in sich zu tragen begann.
In seinem Herz verschaffte sich

Mittwoch, 22. Juni 2016

5291-5300

ûz im erzogen disen knaben,
den wir hie ze hove haben
und der geheizen ist Pârîs.
seht, herre sælic unde wîs,
alsus gefuor ez umb daz kint,
dem sîniu dinc nâch wunsche sint
und nâch heile ergangen
sît daz Pârîs enphangen
sî von iu z’eime gesinde,
sô hânt in ouch ze kinde,

ihn zu diesem jungen Mann erzogen,
der hier bei uns am Hof ist
und Paris heißt.
Schaut, gesegneter und weiser Herr,
so verhält es sich um das Kind,
dessen Sache glücklich verlaufen ist und so,
wie man es sich wünscht.
Da nun Paris von euch
in euer Gefolge aufgenommen wurde,
so nehmt ihn auch als Kind auf,

Dienstag, 21. Juni 2016

5281-5290

dô gap sô lûterbæren schîn
diu wunneclîche varwe sîn,
daz uns der wille wart gegeben,
daz wir liezen im daz leben
dur sîner sælikeite prîs.
wir leiten ez ûf dickez rîs
in den wüesten œden tan.
sît vant ez dirre guote man
von wilder âventiure
und hât mit sîner stiure

Da leuchtete aber seine hinreißende Schönheit
so hell und klar,
dass wir den Entschluss fassten,
ihm das Leben zu lassen,
um seine Vollkommenheit zu würdigen.
Wir legten es auf dicke Äste
in dem wilden, einsamen Wald.
Danach fand es dieser gute Mann
durch unwahrscheinlich-glücklichen Zufall
und hat mit seinem Beistand

Montag, 20. Juni 2016

5271-5280

ichn weiz niht, waz ich sagen sol:
wan ir wizzent selbe wol,
dô mîn frouwe ein kint gebar
schœn unde wunneclich gevar,
daz ir wârent im gehaz
und ich selb ander fuorte daz
in einen walt dur iuwer bete.
als iuwer munt gelobet hete,
sus wolten wir verderbet hân
daz kint nâch wunsche wol getân.

ich weiß nicht, was ich sagen soll,
denn ihr wisst selbst ganz genau,
als meine Herrin ein Kind geboren hatte,
das schön und herrlich aussah,
dass ihr ihm Feind wart,
und ich und ein anderer brachten es
in einen Wald, weil ihr es wolltet.
So wie es eure Worte geschworen haben,
so wollten wir
das makellose Kind beseitigen.

Freitag, 17. Juni 2016

5261-5270

und er tet, daz er gebôt.
iedoch wart er mit grôzer nôt
des dinges überwunden,
daz er dâ bî den stunden
die wâren schulde seite.
frid unde guot geleite
gap im der künic umb daz leben.
als im daz beide wart gegeben
und er sicher mohte sîn,
dô sprach er: ›lieber herre mîn,

und das tat, was er von ihm forderte.
Dennoch wurde nur mit großem Aufwand
sein Widerstand bezwungen,
so dass er dann
den wahren Sachverhalt erzählte.
Schutz und freies Geleit 
sagte ihm der König zu, bei körperlicher Unversehrtheit.
Als ihm beides zugesagt worden war
und er sich sicher fühlen konnte,
da sagte er: ›Mein lieber Herr,

Donnerstag, 16. Juni 2016

5251-5260

sô wirt iu sunder valschen wân
von im ze rehte kunt getân,
daz Pârîs, der knappe guot,
ist iuwer kint und iuwer bluot.‹
Der hirte als er gesprach alsus,
dô hiez der künic Prîamus
den wirt die wârheit sprechen
und mahte in alsô vrechen
mit süezen worten ûz erkorn,
daz er niht vorhte sînen zorn

dann wird er euch ganz gewiss – und
so wie es sich gehört – wissen lassen,
dass Paris, der vortreffliche junge Mann,
euer Kind ist, euer Fleisch und Blut.‹
Als der Hirte das gesagt hatte,
da forderte König Priamus
den Wirt auf, die Wahrheit zu sagen,
und er ermutigte ihn so sehr,
mit süßen, klug gewählten Worten,
dass er seinen Zorn nicht fürchtete 

Mittwoch, 15. Juni 2016

5241-5250

der wâren dinge ân allen spot.
nû, herre, sprechent z’im dur got
und gebietent selbe dar,
daz er iu diz dinc enbar
und entslieze drâte,
wes er hînaht spâte
verjæhe an sînem bette.
daz dinc, daz er dô rette,
daz heizent in hie künden
und ûf ein ende ergründen,

die Wahrheit aussagt, die ganze Wahrheit.
Redet nun mit ihm, Herr, um Himmels Willen!,
und gebt selbst den Befehl dazu,
dass er euch diese Sache enthülle
und bald offenbare,
was er, spät letzte Nacht,
in seinem Bett eingestand.
Die Sachen, die er da erzählte,
die lasst ihn hier bekanntgeben
und die soll er im Detail aufhellen,

Dienstag, 14. Juni 2016

5231-5240

daz ir im tuont die wârheit schîn.
ir mügent des ân angest sîn,
daz ir sînen zorn bejagent,
ob ir die rehten schulde sagent;
dar umb ist er iu niht gehaz,
wan er hât hie gelobet daz
bî küniclicher sicherheit,
daz dem dekeiner slahte leit
von sîner hôhen kraft geschehe,
der von Pârîse hie verjehe

dass ihr die Wahrheit ans Licht bringt.
Ihr braucht keine Angst zu haben,
dass ihr euch seinen Zorn zuzieht,
wenn ihr den Verstoß wahrheitsgemäß erzählt,
werdet ihr damit nicht seinen Hass auf euch richten,
denn er hat hier
mit königlichem Schwur versprochen,
dass demjenigen, durch seine hohe Gewalt,
kein Haar gekrümmt werden wird,
der hier über Paris

Montag, 13. Juni 2016

5221-5230

daz ich den mein erdæhte,
daz ich ze liehte bræhte
valschlîchiu trügenmære.
ê daz ich niht bewære,
daz ir gesprochen hânt diz dinc,
ê wil ich hiute in einen rinc
ze kampfe treten unde gân.
doch sunt ir uns des beide erlân,
daz von uns werde iht hie gestriten.
iuch sol der künic, mîn herre, biten,

auf die bösartige Idee zu kommen,
falsche Lügengeschichten
an die Öffentlichkeit zu bringen.
Bevor es mir nicht gelingt, zu zeigen,
dass ihr diese Dinge gesagt habt,
will ich lieber heute zum Kampfplatz gehen
und zum Kampf antreten.
Ihr solltet uns beide davor bewahren,
dass von uns hier ein Kampf ausgefochten wird.
Euch muss mein Herr, der König, bitten,

Freitag, 10. Juni 2016

5211-5220

›Her wirt, enredent niht alsô,‹
sprach aber z’im der hirte dô,
›wan ez ist âne lougen,
daz ir gesprochen tougen
hânt wider iuwer êlich wîp,
daz Pârîs, der hübsche lîp,
sî des werden künges fruht;
dâ von tuont ez durch iuwer zuht
und sagent ouch die wârheit hie!
wan ich gewan daz herze nie,

›Erzählt doch nicht sowas, Herr Wirt«,
sagte dagegen hierauf der Hirte zu ihm,
›denn es ist nicht gelogen,
dass ihr im Geheimen zu
eurer Ehefrau gesagt habt,
dass Paris, der schöne Mann,
das Kind des ehrenwerten Königs sei.
Tut deshalb, was euer Anstand euch gebietet,
und sagt auch hier die Wahrheit!
Denn ich hätte nie den Mut,

Donnerstag, 9. Juni 2016

5201-5210

ûf üppeclîchiu mære.
wer hât sus hovebære
gemachet iuch in kurzer vrist,
daz iuwer rede komen ist
vür eines künges bilde?
mir ist der knappe wilde,
von dem ir âsprâchent hie.
friunt guoter, ich enhôrte nie
von Pârîse in mînen tagen
weder singen noch gesagen.‹

mit unbedachten Geschichten.
Wer hat euch in kurzer Zeit
so höfisch gemacht,
dass es eure Erzählung bis vor
das Angesicht eines Königs geschafft hat?
Ich kenne nicht den jungen Mann,
von dem ihr hier unbekümmert gesprochen habt.
Guter Freund, ich habe in meinem ganzen Leben
nie von einem Paris gehört,
weder in Liedern noch in Erzählungen.‹

[»bilde« scheint mir hier am besten mit »Angesicht« übersetzt zu werden, auch wenn dieser Begriff im neuen mittelhochdeutschen Wörterbuch nicht vorgeschlagen wird.]

Mittwoch, 8. Juni 2016

5191-5200

Der wirt von disen worten
erschrac in allen orten,
sam die durch vorhte gar verzagent.
›friunt, ich enweiz niht, waz ir sagent‹
sprach er wider in zehant.
›diu mære sint mir unbekant,
von wannen Pârîs komen sî.
lânt mich der tegedinge frî,
wan iuwer rede ist mir ein spel.
diu zunge ist iu vil gar ze snel

Der Wirt erschrak über diese Worte
in jeder Hinsicht, ganz so wie diejenigen,
die aus Furcht völlig den Mut verlieren.
›Ich weiß nicht, Freund, wovon ihr sprecht‹,
sagte er sofort zu ihm,
›über diese Sache weiß ich nichts,
weiß nicht, von woher Paris gekommen ist.
Erlasst mir dieses Verhör,
denn was ihr gesagt habt, scheint mir ein Märchen zu sein.
Euer Mundwerk ist viel zu lose,

[Ist »Verhör« zu spezifisch? Als Alternative könnte man »Gerichtsverhandlung« einsetzen, aber welcher »Wirt« spricht im Zustand völligen Schocks von einer »Gerichtsverhandlung«? À propos: Sollte man davon sprechen, dass der Wirt »völlig geschockt« war? Das wäre wohl näher am gesprochenen Gegenwartsdeutsch.]

Dienstag, 7. Juni 2016

5181-5190

dur slâfen an ir bette.
swaz iuwer munt dô rette,
daz hôrte ich allez ûf ein ort.
nû sagent hie diu selbiu wort,
sô merket man in kurzer vrist,
daz Pârîs bî namen ist
des hôchgebornen künges kint
und daz diu mære niht ensint
durch eine trügeheit erdâht,
diu von mir sint ze liehte brâht.‹

in ihr Bett gelegt hatten um zu schlafen.
Alles was euer Mund da sagte,
das hörte ich von Anfang bis zum Ende.
Sagt nun hier dieselben Worte,
so wird man bald merken,
dass Paris tatsächlich
das King des hochgebornen Königs ist
und dass die berichtete Sache,
die von mir öffentlich gemacht wurde, nicht
in betrügerischer Absicht erfunden worden war.‹

Montag, 6. Juni 2016

5171-5180

›her wirt, ez ist sô verre komen,
daz mîn herre hât vernomen,
daz Pârîs von im ist geborn.
nû lânt belîben âne zorn,
ob ich mit iu beziuge,
daz ich im niht enliuge
von dem erwelten knehte.
entsliezent hie ze rehte,
waz ir hînaht seiten,
dô sich die liute leiten

›Herr Wirt, es ist so weit gekommen,
dass mein Herr erfahren hat,
dass Paris sein Sohn ist.
Werdet nun nicht zornig,
wenn ich mit euch bezeuge,
dass ich ihn nicht angelogen habe,
über den ausgezeichneten jungen Mann.
Verratet hier, so wie es sich gehört,
was ihr heute Nacht gesagt habt,
als sich die Leute

Freitag, 3. Juni 2016

5161-5170

und er in sach mit ougen an,
dô wart der hôchgeborne man
bleich und erschrockenlich gestalt.
im wart in sînem lîbe kalt
daz herze bî der stunde:
wan er zehant von grunde
des kindelînes wart ermant,
daz er den wirt mit sîner hant
hiez tœten, als ich ê verjach.
der hirte wider in dô sprach:

und er ihn mit eigenen Augen sah,
da wurde der hochgeborene Mann
bleich und er sah erschrocken aus.
In seiner Brust wurde ihm
– in diesem Moment – das Herz kalt,
weil er augenblicklich und radikal
an das Kleinkind erinnert wurde,
dass der Wirt nach seinem Befehl
hatte töten sollen, wie ich schon erzählt habe.
Da sagte der Hirte zu ihm: 

5151-5160

Pârîs mîn sun von adele sî;
wan ich bin des gelouben vrî,
daz er mich ihtesiht bestê.
sô wilde sache wart nie mê
vür mînes herzen ougen brâht,
sô daz ieman des hât gedâht,
daz Pârîs von mir sî geborn.‹
sus hiez der künic âne zorn
den wirt besenden alzehant.
nû daz er vür in was besant

dass Paris mein edler Sohn ist,
denn ich kann mir nicht vorstellen,
dass er sich hier irgendwo befindet.
Eine so wilde Sache wurde noch nie
vor die Augen meines Herzens gebracht,
und niemand wäre je auf die Idee gekommen,
dass Paris mein Sohn sei.‹
In diesem Sinne ließ der König ohne Wut
sogleich den Wirt holen.
Als er nun vor ihn geschickt worden war

[Ich verstehe und übersetze »bestên« als »um jemanden herum stehen«, »umstehen«.]

Mittwoch, 1. Juni 2016

5141-5150

und erziuge disiu dinc,
daz Pârîs, der jungelinc,
ist iuwer sun von rehter ê.
man bringe in her, waz sol daz mê,
sô wirt diu wârheit hie vernomen
von dem juncherren vollekomen.‹
der künic sprach: ›daz muoz geschehen.
ich sol den willeclichen sehen,
der hiute mir bewære,
daz der vil wunnebære

diese Sache,
dass Paris, der junge Mann,
euer Sohn ist und aus eurer Ehe hervorging.
Doch genug davon, man bringe ihn her,
dann wird man hier die Wahrheit hören
über den makellosen jungen Herren.‹
Der König sagte: ›Das wird geschehen.
Ich muss den sehen, der dazu bereit ist,
der mir hier und jetzt beweist,