Mittwoch, 31. August 2016

5611-5620

der ich zer welte solte leben.
waz hilfet, daz mir sint gegeben
liut unde lant, sît daz ich hân
der leiden zuoversihte wân,
daz ich lîp unde guot verzere
und ich verliese ân alle were
daz rîch und al mîn êre?
mit jâmer und mit sêre
muoz ich sîn gebunden.‹
sus kert er bî den stunden

mit der ich hier auf Erden leben sollte.
Was bringt es, dass ich über
Leute und Land verfüge, da ich doch
zukünftiges Leid erwarte,
dass nämlich mein Leben und Besitz zugrunde gehen
und ich – ohne mich wehren zu können –
das Reich und mein ganzes Ansehen verliere?
Mit Schmerz und Jammer
bin ich gefesselt.‹
Dann kehrte er binnen kurzer Zeit

Dienstag, 30. August 2016

5601-5610

ist gehenket über dich,
sô lâze ouch ungestrâfet mich,
dur daz ich trûric schîne:
wan mînes herzen pîne
die sint als engestlichen grôz,
als ob ein swert scharpf unde blôz
durch mich vallen welle.
ich sage dir, trût geselle,
mir sint diu mære z’ôren komen,
diu mir die vröude hânt benomen,

über dich gehängt wurde,
dann beschwere dich auch nicht über mich –
darüber, dass ich einen traurigen Eindruck mache;
denn die Qualen meines Herzens,
die sind so furchterregend groß,
als ob ein scharfes, blankes Schwert
drohte, mich zu durchbohren.
Ich sage dir, lieber Freund,
mir sind Nachrichten zu Ohren gekommen,
die mir die Freude genommen haben,

Montag, 29. August 2016

5591-5600

sô tiure als umb ein cleinez hâr,
daz swert gesliffen unde clâr
wirt durch mich gevellet.
mich hât dîn hant gestellet
in alsô marterbæren pîn,
daz ich niht vrœlich mac gesîn.‹
›Jâ,‹ sprach dô Prîamus zehant,
›und ist dîn vorhte alsô gewant,
daz dîn muot niht vröuden gert,
dar umbe daz ein scharpfez swert

um eine Haaresbreite bewegt,
fährt das geschliffene, blanke Schwert
durch mich hindurch.
Du selbst hast mich einer 
derart peinigenden Quälerei ausgesetzt,
dass ich nicht fröhlich sein kann.‹
›Ja‹, sagte Priamus sogleich darauf,
›und wenn deine Furcht sich so auswirkt,
dass dir der Sinn nicht nach Freude steht,
weil ein scharfes Schwert

Freitag, 19. August 2016

5581-5590

liut unde lant, êr unde guot.
durch waz bist dû niht hôchgemuot,
sît daz dû lebest nâch dîner ger?‹
›wie solte ich vrô gesîn,‹ sprach er,
›und einen hôhen muot getragen?
ichn weiz doch, wenne ich wirde erslagen
mit einem scharpfen swerte balt,
daz hie dîn küniclich gewalt
hât über mich gehenket.
swie mir daz houbet wenket

Leute und Land, Würde und Besitz.
Was ist es, dass dich von der Glückseligkeit abhält,
obwohl du doch so lebst, wie du es dir nur wünschen kannst?‹
›Wie könnte ich glücklich sein‹, sagte er,
›und mich in Hochstimmung zeigen?
Ich kann ja nicht wissen, wann ich
von einem scharfen Schwert plötzlich erstochen werde,
das hier deine königliche Macht
über mich gehängt hat.
Wenn mein Kopf sich auch nur

Donnerstag, 18. August 2016

5571-5580

wær im gevallen durch den lîp.
dar umb er als ein zühtic wîp
still unde schemelichen saz.
sîn herze vröuden gar vergaz
und aller wunne bî der zît.
dâ von der künic aber sît
wider in dô schiere sprach:
›friunt, waz ist nû dîn ungemach?
war umbe vröuwest dû dich niht?
nû hâst dû doch in dîner pfliht

hätte ihm den Körper durchbohrt.
Deshalb saß er still und schamrot
wie eine sittsame Frau.
Sein Herz vergaß in dieser Situation
jedwede Freude und alles Vergnügen.
Deshalb sagte der König
nach einiger Zeit wiederum plötzlich zu ihm:
›Mein Lieber, was macht dich nun unglücklich?
Warum freust du dich nicht?
Du hast doch nun Macht über

Mittwoch, 17. August 2016

5561-5570

von angestbæren sorgen.
sîn vröude wart verborgen
und al sîn hôchgemüete gar.
wan dô daz swert blôz unde bar
ob im an einem hâre hienc,
dô wart er trûric und enpfienc
vorht unde zagelichen sin.
het er gerücket iender hin
und umb ein hâr gerüeret sich,
daz swert scharpf unde lûterlich

vor lauter beklemmender Sorgen zu schwitzen.
Seine Freude wurde verdeckt
und all seine Glückseligkeit,
denn als das nackte, blanke Schwert
an einem Haar über ihm hing,
da wurde er unglücklich und er wurde
von Furcht und Angst ergriffen.
Wäre er ein wenig zur Seite gerückt
oder hätte er sich um Haaresbreite bewegt,
das blanke, scharfe Schwert

Dienstag, 16. August 2016

5551-5560

an mîner stat an dirre stunt.
sît ich an fröuden ungesunt
und an hôhem muote bin,
sô maht dû wunnebæren sin
und ein vrœlich herze hân:
wan swaz dû wilt, daz wirt getân.‹
Nû daz der künic Prîamus
den hübschen man gehiez alsus
ûf sîn gestüele sitzen,
seht, dô begund er switzen

jetzt und an meiner statt.
Da meine Freude und Glückseligkeit
krank geworden sind,
magst du nun frohen Mutes sein
und ein fröhliches Herz haben,
den alles, was du willst, das wird man tun.‹
Als nun der König Priamus
dem höfischen Mann mit diesen Worten
befahl, auf seinem Thron zu sitzen,
seht, da begann er

Montag, 15. August 2016

5541-5550

gebieter und ein künic wert!
ob nû dîn herze vröuden gert,
sô maht dû werden hôchgemuot.
ich hân dir lant, liut unde guot
gelihen allen disen tac.
swaz ich dâ her gewaltes pflac,
geselle tiure, des lâz ich
noch hiute pflegen alles dich,
dur daz dû vrô belîbest
und kurzewîle trîbest

Herrscher und herrlicher König!
Wenn nun dein Herz nach Freuden verlangt,
so hast du die Möglichkeit, glückselig zu werden.
Ich habe dir Land, Leute und Besitz
für diesen ganzen Tag übergeben.
Was auch immer ich an Macht hatte,
geschätzter Freund, das alles übergebe ich
noch heute deiner Gewalt,
damit du glücklich bist und bleibst
und dir fröhlich die Zeit vertreibst,