Mittwoch, 28. September 2016

5801-5810

von Prôtheô, dem wîssagen,
daz er ze Troye würde erslagen
und daz er dâ gelæge tôt.
diu selbe clegelîchiu nôt
der muoter sîn vil nâhe lac.
ze herzen gienc ir unde wac
diz leit vür alle swære,
daz man ir seite mære,
daz er vor Troye stürbe.
daz er dô niht verdürbe,

von Protheus, dem Weissager,
dass er zu Troja niedergeschlagen werde
und dort sterben würde.
Eben dieses zu beklagende Elend
ging seiner Mutter sehr nahe.
Mehr als aller Kummer traf und ging ihr
dieses Leid zu Herzen,
dass man ihr nämlich Neuigkeiten brächte,
dass er vor Troja gestorben sei.
Dass er dort nicht zu Tode komme,

5791-5800

wart ûf sînen lîp geleit.
er hete die liutsælikeit,
swer ez mit ougen ane sach,
daz der in sînem herzen jach,
im breste weder dis, noch des.
geheizen wart Achilles
der junge hôchgeborne knabe.
als ich dâ vor gesprochen habe
und êrst mit rede ergründet,
sô was von im gekündet

zur Genüge ausgestattet.
Er verfügte über die Eigenschaft, den Menschen angenehm zu sein.
Wer auch immer das mit eigenen Augen sah,
der sagte sich in seinem Herzen,
dass es ihm an nichts fehlte.
Genannt wurde das junge,
hochgeborene Kind Achilles.
Ich habe ja schon gesagt
und zuvor mit einigen Worten erforscht,
dass über ihn prophezeit wurde,

Montag, 26. September 2016

5781-5790

nâch tugenthafter wîbe site.
ir wonte daz gelücke mite,
daz si ze rehter zît genas.
und dô daz kint geboren was,
dô schein sîn lîp sô minnevar,
daz man nie knebelîn gebar,
daz alsô wunnebære
und sô durchliuhtic wære,
sô diu vil küniclîche fruht.
gelücke und êre mit genuht

so wie es redliche Frauen tun.
Sie hatte das Glück,
dass die Geburt zur rechten Zeit geschah.
Und als das Kind geboren worden war,
da strahlte sein Körper derart lieblich,
dass man nie einen Jungen geboren hat,
der so bezaubernd,
so leuchtend und strahlend war,
wie die höchst königliche Leibesfrucht.
Er wurde mit Glück und Ansehen

Freitag, 23. September 2016

5771-5780

umb den vil schœnen apfel schiet,
ich meine, dô der hovediet
seite ein wîssage überlût,
daz diu küniclîche brût
ein kindelîn begunde tragen,
daz sît vor Troye würde erslagen.
Daz selbe kint von hôher art,
mit dem diu küniginne wart
begriffen dâ zer hôchgezît,
seht, daz gebar diu vrouwe sît

um den sehr schönen Apfel schlichtete,
ich meine den Moment, als ein
Weissager unüberhörbar
der Hofgesellschaft sagte,
dass die königliche Braut
mit einem Kindlein Schwanger geworden war,
das später vor Troja getötet werden würde.
Dieses Kind von edlem Geschlecht,
mit dem die Königin dort
bei der Hochzeit ergriffen wurde,
schaut, das hat die Dame seitdem zur Welt gebracht,

Donnerstag, 22. September 2016

5761-5770

wart in beiden vil gehaz.
wie sich von êrst erhüebe daz,
daz wirt iu wol her nâch geseit.
diz mære, daz wirt hie geleit
von ir ungelinge nider,
wan ich grîf an die rede wider,
wie man daz kindelîn erzôch,
des Thêtis, diu frouwe hôch,
wart swanger zuo der hôchgezît,
dô Pârîs der götinne strît

anfing, beide zu hassen.
Wie es damit zuallererst anfing,
das wird euch später noch genau erzählt.
Diese Geschichte, die von ihrem Unglück,
die wird nun zur Seite gelegt,
denn ich komme zur Erzählung davon zurück,
wie man das Kindlein erzog,
mit dem Thetis, die edle Dame,
bei der Hochzeit Schwanger wurde,
als Paris den Streit der Göttinnen

Dienstag, 20. September 2016

5751-5760

in ganzer wirde swebten
und nâch ir muote lebten
baz denn alle künige hôch;
dô kêrte von in unde vlôch
gelücke, daz in wonte bî.
si wurden manger sælden vrî,
der an in was ein wunder ê.
Fortûne wolte in dô niht mê
genædeclichen lachen;
wan si mit allen sachen

in aller Würde sich treiben ließen
und so lebten, wie es ihnen gefiel,
besser als alle großen König,
da wendete sich von ihnen das glückliche Schicksal,
das sich bei ihnen aufgehalten hatte, ab und eilte davon.
Ihnen ging so manches Heil verloren,
von dem sie zuvor eine Unmenge hatten.
Fortuna wollte sie nun
nicht mehr wohlwollend anlachen,
weil sie in jeder Hinsicht

Montag, 19. September 2016

5741-5750

mit êren bî der hovediet.
den hof mit vröuden er beriet
und was iedoch sîn herze unfrô.
der jungelinc der trûrte dô
nâch Helênen minne.
er hete sîne sinne
durch si geleit in clagende sene.
nû künic Lâmedon, sîn ene,
und Prîamus, der vater sîn,
mit êren sunder leides pîn

in großem Ansehen bei der Hofgemeinschaft.
Dem Hof bereitete er freudige Unterhaltung,
jedoch hatte er ein unglückliches Herz.
Der junge Mann war nämlich traurig
wegen Helenas Liebe.
Er hatte wegen ihr sein Sinnen und Trachten
auf klagende Sehnsucht gerichtet.
Da nun König Lamedon, sein Großvater,
und Priamus, sein Vater,
in großem Ansehen ohne Leid und Schmerz

Freitag, 16. September 2016

5731-5740

gewesen ê gesinde;
nû wart er z’eime kinde
von dem vater sîn gezelt
und vür den besten ûz erwelt,
der iender wonte in sînem sal.
der hof gezieret über al
wart mit sîner hôhen tugent.
alsô versleiz er sîne jugent
bî sînem werden vater vil
und wonte ûf langer stunde zil

zuvor zur Dienerschaft gehört,
nun wurde er von seinem Vater
zu dessen Kindern gezählt
und zum Besten erkoren,
der jemals in dem Saal sich aufhielt.
Der Hof wurde allenthalben
mit seiner großen Vortrefflichkeit geschmückt.
Auf diese Weise verbrachte er seine Jugend
zu einem guten Teil bei seinem angesehenen Vater
und lebte, ohne das sich ein Ende absehen ließ,

[»ûf langer stunde zil« dürfte meinen, dass auf eine lange Dauer ›abgezielt‹ wird, deshalb die Übersetzung mit »ohne das sich ein Ende absehen ließ«.]

Donnerstag, 15. September 2016

5721-5730

verlâzen dâ vil schône.
im gap der künic ze lône
ein meigertuom in sîne gewalt,
daz jâres vierzic pfunde galt
und im sîn hûs vil wol beriet.
hie mite er von dem hove schiet
und kêrte in vröuden wider hein.
Pârîs, der als ein engel schein
lieht unde wunneclich gevar,
was in der hovelichen schar

dort sehr freundlich verabschiedet.
Ihm übertrug der König als Lohn
die Verwaltung eines Gutshofes,
bei dem im Jahr mit vierzig Pfund zu rechnen war
und womit sein Hausstand sehr gut versorgt war.
Danach verließ er den Hof
und kehrte freudig wieder nach Hause zurück.
Paris, der wie ein Engel strahlte,
hell und in entzückenden Farben,
hatte in den Kolonnen am Hof

[Ich übersetze »meigertuom« erläuternd.]

Mittwoch, 14. September 2016

5711-5720

mê denne hundert tûsent stunt!‹
hie mite kuste an sînen munt
Prîamus Pârîsen dô:
des wart daz hofgesinde vrô.
Si wâren algelîche
der suone vröudenrîche,
diu des mâles wart vernomen;
man sach ze hôher wunne komen
die geste mit dem wirte.
ouch wart der guote hirte

mehr als tausendfach willkommen sein!‹
Nach diesen Worten gab Priamus
dem Paris sogleich einen Kuss auf den Munnd.
Darüber waren die Hofleute glücklich.
Sie waren alle zusammen
froh über die Versöhnung,
von der man bei dieser Gelegenheit erfuhr.
Man sah, dass die Gäste mit dem
Gastgeber in eine vergnügte Stimmung gerieten.
Auch wurde der gute Hirte

Dienstag, 13. September 2016

5701-5710

daz ich wânde hân verlorn,
ganc her, ich hân dich ûz erkorn
ze trôste in mînem leide!
dû bist mîn ougenweide
und mînes herzen wunnespil.
ich wünsche, daz ân endes zil
dîn herze in sælden gruone
ein êweclîchiu suone
sol werden zwischen mir und dir.
sîst willekomen hiute mir

das ich verloren zu haben glaubte,
komm her, ich habe dich auserwählt
als Trost in meinem Leid!
Du bist meine Augenweide
und die große Freude meines Herzens.
Ich möchte, dass dein Herz
für immer und ewig im Heil blühe.
Ein ewiger Frieden
soll zwischen dir und mir sein.
Du sollst mir heute

Montag, 12. September 2016

5691-5700

gelücke wahset mit genuht.
wie künde ein alsô reiniu fruht
iemer schaden mich gewern.
ich wil sîn z’eime vriunde gern
mit herzen und mit munde.‹
sus tet er bî der stunde
Pârîse ganze triuwe schîn.
er hiez in willekomen sîn
ân aller sorgen underbint.
›Pârîs,‹ sprach er, ›mîn liebez kint,

entsteht Glück zur Genüge.
Wie könnte ein so reines Kind
mir jemals Schaden zufügen?
Ich will mich um seine Freundschaft bemühen,
mit Herz und Mund.‹
Daraufhin zeigte er
Paris seine ganze Treue.
Er sagte ihm, dass er willkommen sein
solle und sich nicht von Sorgen solle stören lassen. 
›Paris‹, sagte er, ›mein liebes Kind,

Freitag, 9. September 2016

5681-5690

durchnehteclichen minnen.
in sînes herzen sinnen
gedâht er wider sich zehant:
›sît daz gevallen und gewant
ûf Pârîsen ist daz heil,
daz an im lît der êren teil
und aller sælden übersoum,
waz möhte ein üppeclicher troum
mir gewerren danne?
von sældenrîchem manne

bedingungslos zu lieben.
Während sein Herz Gedanken umher wälzte,
dachte er augenblicklich, ganz für sich:
›Weil sich nun das Glück
auf Paris’ Seite geschlagen hat hat und sich auf ihn niederließ,
so dass er einen festen Anteil hat am höfischen Ansehen
und einen mehr als voll gepackten Wagen voll mit göttlichem Heil,
was soll ein unnützer Traum
mir da groß schaden?
Durch einen gesegneten Mann

[Hoffentlich habe ich bei der Übersetzung von »in sînes herzen sinnen« nicht übertrieben… auch sonst bewegen sich in diesen zehn Versen ein paar Stellen recht weit vom Text weg, um die Übersetzung möglichst leicht verständlich zu halten.]

Donnerstag, 8. September 2016

5671-5680

mit ir süezen senftekeit
an sîme zorne dâ gestreit.
Dô Prîamus an im ersach,
daz vür alle clârheit brach
sîn wunneclich figûre,
dô lêrt in diu natûre
und daz angeborne reht,
daz er den tugentrîchen kneht
und den erwelten jungelinc
begunde sâ vür alliu dinc

mit ihrem süßen Sanftmut
kämpfte dort mit seinem Zorn.
Als Priamus, weil er ihn ansah, erkannte,
dass seine entzückende Gestalt wahrlich
alle Herrlichkeit überstieg,
da lehrte ihn die Natur
und das natürliche Gesetz,
dass er anfing, ihn, der treu war und zu Höherem strebte,
ihn, den ausgezeichneten jungen Mann,
von diesem Moment an mehr als alles andere 

[»reht« ist oft nicht einfach zu übersetzen. Statt von einem »angeborenen Recht« zu sprechen, übersetze ich »natürliches Gesetz«, was m.E. verständlicher ist und inhaltlich durchaus dem entspricht, was mit dem »angeboren reht« gemeint ist.

Ob hier mit »kneht« der Rangunterschied betont wird? Oder ist einfach »Knabe/Jüngling« gemeint (mithin einfach der Altersunterschied)?]

Mittwoch, 7. September 2016

5661-5670

und in vil kurzer stunde.
der sun mit rôtem munde
und mit der ougen schîne
den vater dô von pîne
begunde suoze scheiden;
wan er mit disen beiden
sô minneclichen lachete,
daz er im trûren swachete
und al sîn ungemüete.
diu veterlîchiu güete

und das in kurzer Zeit.
Der Sohn fing schnell an, mit
rotem Mund und mit strahlenden Augen
den Vater dann von Schmerz
auf angenehme Art zu befreien;
denn mit diesen beiden
lachte er so liebenswert,
dass er seine Traurigkeit schwach machte
und all seinen Kummer.
Die väterliche Güte

Dienstag, 6. September 2016

5651-5660

lie durch sîne clâren jugent.
Pârîs der hete an im die tugent
und was vor wandel sô getwagen,
swem er den vater hæte erslagen,
er müeste im guotes hân verjehen,
het er in z’einer stunt gesehen
mit volleclichen ougen an;
dâ von sîn vater dô gewan
ein miltez herze wider in;
sîn vîentschaft was schiere hin

aufgab, wegen seiner strahlenden Jugend.
Paris war von Fehlern und Makel so reingewaschen
und er verfügte über die Eigenschaft, dass,
wem auch immer er den Vater erschlagen hätte,
er nicht umhin gekommen wäre, ihm nur Gutes zu wünschen,
hätte er ihn zu dieser Zeit
mit offenen Augen angesehen.
Deshalb gelang es dann seinem Vater, sein Herz
ihm gegenüber großzügig zu machen.
Seine Feindseligkeit hatte sich sogleich erledigt

Montag, 5. September 2016

5641-5650

wider in sîn grimmer zorn,
wan dô der knappe hôchgeborn
vür in was gegangen,
dô hete schiere enphangen
der künic vröudenrîchen muot.
sîn varwe lûter unde guot
und alle die gezierde sîn,
die gâben sô rîlichen schîn,
daz er des zornes sîn vergaz
und allen vîentlichen haz

Zorn ihm gegenüber nicht an,
denn, als der hochgeborene Jüngling
vor ihn getreten war,
da hatte den König sogleich
eine freudige Stimmung ergriffen.
Seine reine und schöne Haut
und sein vollends schmuckes Äußeres,
die leuchteten so herrlich,
dass er seinen Zorn vergaß
und allen feindseligen Hass

Freitag, 2. September 2016

5631-5640

was vor allem meine.
Pârîs, der knappe reine,
und sîner bruoder viere
mit fröuden îlten schiere
vür sînen vater Prîamum,
der im dô sînen willekum
tiur unde fremde werden lie;
wan er in zuo dem mâle enphie
mit übellicher angesiht.
doch enwerte lange niht

weil sie ihm ab- und weggeschnitten worden war.
Paris, der makellose Jüngling,
und vier seiner Brüder
beeilten sich freudig,
vor die Augen seines Vaters Priamus zu kommen,
wo dessen Willkommensgruß
für ihn zur Kostbarkeit wurde, die fern lag,
denn er empfieng ihn bei dieser Gelegenheit
mit sehr unfreundlicher Miene.
Doch lange hielt sein

Donnerstag, 1. September 2016

5621-5630

mit leide ûf sîn gestüele wider.
nû kam diu küniginne sider
vür in dar gegangen
und hete dâ gevangen
Pârîsen bî der hende wîz.
si fuorte in sunder itewîz
für den künic hôchgeborn
und wolte stillen sînen zorn
mit dem juncherren ûz erwelt,
der wol geliutert und beschelt

bekümmert zurück auf seinen Thron.
Danach ging dann die Königin
zu ihm
und sie hielt die weißen Hände
des Paris fest umschlossen.
Sie führte ihn mit allen Ehren
zu dem hochgeborenen König
und wollte seinen Zorn besänftigen
mit Hilfe des ausgezeichneten jungen Herrn,
weil er ja rein war, geläutert von aller Bösartigkeit,